Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. Oktober 2023, Teil 7
Margarete Ohly-Wüst
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Philippa Langley (Sally Hawkins) ist eine Mit-Vierzigerin aus Edinburgh, die unter einem chronischen Erschöpfungssyndrom (Chronic Fatigue Syndrome) leidet, in ihrem Job bei der aktuellen Beförderung mal wieder übergangen wurde, deren Söhne Max (Adam Robb) und Raife (Benjamin Scanlan) beginnen eigene Wege zu gehen und die von ihrem Mann John (Steven Coogan) geschieden ist. Allerdings verstehen sich die Beiden noch ziemlich gut. John kommt immer wieder bei Philippa vorbei und hilft im Haushalt und mit den Jungen aus.
Nach einem Theaterbesuch zu Shakespeares ″Richard III″ im Rahmen eines Schulprojektes ihres Sohnes Max, macht sie sich Gedanken, ob der von Shakespeare dargestellte König wirklich ein solches Monster war. Sie fragt sich, ob Richard tatsächlich für die Ermordung seiner beiden Neffen Edward und Richard verantwortlich war, ob er wirklich einen Buckel hatte und ob er so unfreundlich aussah, wie auf den überlieferten Gemälden. Oder wurde sein Bild von seinen Nachfolgern, den Tudor-Königen bewusst verfälscht?
Sie beginnt Bücher über Richard zu lesen, besucht Archive und fährt sogar zu einer Vorlesung über den König nach Leicester. Sie trifft auch auf Wissenschaftler, wie Dr. John Ashdown-Hill (James Fleet), der ein Experte für die Geschichte des Hauses York ist und der für belgische Kollegen nach noch heute lebenden Verwandten mit derselben mitochondrialen DNA von Richard III und seiner Schwester Margareta von York (die in Belgien gestorben war) suchen sollte. Er fand eine rein weibliche Abstammungslinie von Richards ältester überlebender Schwester Anna von York zu zwei ihrer Nachfahren.
Philippa, die jetzt regelmäßig Erscheinungen von dem gut aussehenden Schauspieler (Harry Lloyd) hat, der in dem Theaterstück in Edinburgh den König spielte, beginnt mit der Suche nach Richards Grab, obwohl die landläufige Meinung der Wissenschaftler ist, dass der Leichnam des Königs während der Auflösung der englischen Klöster in den nahen Fluss Soar geworfen worden wäre. Dort existiert sogar eine Tafel, die aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts angebracht worden ist.
Da ihr mitgeteilt wurde, dass Kirchen in England meist nicht überbaut werden, beginnt sie mit der Suche auf freien Plätzen in Leicester. Sie vermutet, dass der Friedhof und das zerstörte Kloster unter dem Parkplatz des Sozialamtes der Stadt liegt.
Sie setzt sich mit dem Archäologen Richard Buckley (Mark Addy) zusammen und versucht Geld für eine Grabungskampagne zu bekommen. Doch sie muss noch weitere Hürden überwinden, um der Welt die Wahrheit über Richard III näher zu bringen. So droht z.B. das Geld auszugehen, trotzdem kämpft sie weiter und beginnt mit Crowdfunding über das Internet zusätzliches Geld für eine weitere Grabungskampagne zu bekommen. Dabei hat sie immer eine Vermutung, an welcher Stelle des Parkplatzes die Gebeine liegen könnten, allerdings wird dort nach einigen Fehlschlägen und der Vermutung, dass zwei dort gefundenen menschliche Beinknochen zu einem Mönch gehören könnten, nicht mehr weiter gegraben. Doch sie besteht darauf und unter einem mit R (für reserviert) gekennzeichneten Parkplatz finden die Archäologen eine männliche Leiche, die eine verkrümmte Wirbelsäule aufweist.
Die Wissenschaftler werden letztendlich durch eine DNA-Analyse nachweisen können, dass dies die Gebeine des ungeliebten Königs Richard III sind, dass er keinen Buckel, sondern eine Skoliose hatte und er dadurch eine Schulter hochzog, dass er nicht – wie auf den Gemälden dargestellt - dunkelhaarig war, sondern dass er blond war und blaue Augen hatte. Jetzt wird von den Mitarbeitern der Universität eine riesige Pressekampagne losgetreten, in der Philippa Langley plötzlich keine Rolle mehr spielen wird…
Regisseur von ″The Lost King″ ist Stephen Frears, das Drehbuch stammt von Steve Coogan & Jeff Pope. Der Regisseur hat bereits bei ″Philomena″ (2013) mit den beiden Drehbuchautoren zusammengearbeitet und ebenso wie in ″Philomena″ hat Steve Coogan wieder die Rolle des männlichen Hauptdarstellers (als Philippas Ex-Mann John) übernommen. Dabei hat der Regisseur hier – wie in einigen seiner vorherigen Filme, z.B. ″Lady Henderson präsentiert″ (2004 mit Judi Dench), ″The Queen″ (2006 mit Helen Mirren), ″Florence Foster Jenkins“ (2016 mit Meryl Streep), ″Victoria & Abdul (2018 mit Judi Dench) oder wie schon genannt ″Philomena” (2013 mit Judi Dench) - starke Frauenfiguren dargestellt, die auf reale Personen zurückgehen und die ihre Ideen und Wünsche mit dem nötigen Stehvermögen verfolgten, genauso wie Philippa Langley das in ″The Lost King″ macht.
Es geht in dem Film sowohl um die Suche nach den sterblichen Überresten des ″verlorenen Königs″ als auch um die Begleitumstände rund um Philippa Langley. Natürlich musste Philippas Suche nach dem unbekannten Grab Richard III in dem Film aus dramaturgischen Gründen verdichtet und zeitlich verkürzt werden. Denn in der Realität hat Philippa siebeneinhalb Jahre damit zugebracht, den Verbleib nach Richards Gebeinen zu recherchieren und letztendlich zu finden. Wie aber letztendlich wissenschaftlich nachgewiesen wurde, dass das gefundene Skelett wirklich von Richard Plantagenet stammt, ist eigentlich nicht mehr Teil des Films. Aber das wäre vermutlich auch zu wissenschaftlich gewesen.
Philippa zeigt dabei eine beeindruckende Hartnäckigkeit. Auch wenn sie in der wissenschaftlichen Welt eine Außenseiterin ist und immer wieder vom Establishment verlacht und unterschätzt wird, hält sie an ihren Überzeugungen fest. Der Regisseur zeigt das regelmäßig sehr schön in den Szenen, in denen Richard als königlicher Geist immer wieder auftaucht und sich später auch mit seiner Bewunderin unterhält. Dabei wird es im Film eigentlich nie ganz klar, ob man die unscheinbare Frau bewundern oder verspotten sollte. Die willensstarke und doch zurückhaltende Hobby-Archäologin wird wunderbar charmant von Sally Hawkins gespielt, die schon häufiger mit ähnlichen Rollen glänzen konnte - z.B. in ″Maudie″ (2016) oder ″Shape of Water – Das Flüstern des Meeres″ (2017), für diese Rolle hat sie 2018 u.a. sowohl eine Nominierung als beste Hauptdarstellerin bei den Golden Globes als auch den Academy Awards bekommen.
Neben Steven Coogan als freundlicher und hilfsbereiter Ex-Mann John, dessen Darstellung deutlich zeigt, dass zwischen den ehemaligen Eheleuten immer noch eine ganz besondere Vertrautheit herrscht, gefällt vor allem Harry Lloyd in der Rolle des imaginären Königs. Übrigens ist der Schauspieler, der in der ersten Staffel von ″Game of Thrones″ (2011) als Viserys Targaryen zu sehen war, ein Ur-Ur-Enkel von Charles Dickens.
In zwei Nebenrollen sind Mark Addy, als Archäologe Richard Buckley zu sehen, der sich zu Beginn auf Philippas Seite stellt, weil durch sie die Chance auf neue Forschungsgelder besteht, während Lee Ingleby den arroganten Richard Taylor, den stellvertretenden Kanzler der Universität, spielt, der zunächst gegen das Projekt ist und dann ganz schnell nach dem Auffinden der Gebeine anfängt, sich und die Universität ins Rampenlicht zu stellen. Übrigens ist Philippa Langley in einem Cameo Auftritt gegen Ende des Films als Ehrengast in der Bestattungsszene von Richard III zu sehen.
″The Lost King″ ist ganz sicher ein Film, der das Skurrile mit einem Wohlfühlfaktor kombiniert. Allerdings wird auch immer wieder darauf hingewiesen, wie stark auch heute noch das Bild Richards III durch das blutige Drama von Shakespeare beeinflusst worden ist, das erst 100 Jahre nach dem Tod des letzten Königs aus dem Hause Plantagenet entstanden ist. Das Drama kam 1593 unter dem Titel The Tragedy of Richard the Third erstmals zur Aufführung. Es bildet den Abschluss von zwei Tetralogien von Shakespeares Historiendramen über den Ursprung und das Ende der Rosenkriege. Wieweit Philippa Langley davon inspiriert war, dass ein Edmund of Langley der 4. überlebende Sohn von König Edward III und der erste Herzog von York und damit der Urgroßvater Richards war, die schließlich die Fraktion der Weißen Rose bildete, wurde im Film nicht angesprochen.
Insgesamt ″The Lost King″ eine charmant erzählte Tragikomödie und voll von ″typisch″ britischem Humor. Es ist die Geschichte einer Frau, die zum ersten Mal eine große Entschlossenheit an den Tag legt und bereit ist, für ihre Überzeugung zu kämpfen, die eigentlich schon an Besessenheit grenzt. Dass der Regisseur und die Drehbuchautoren den zu suchenden König auftreten lassen, zeigt deutlich die Faszination, die Philippa im Laufe der Jahre für ihre Aufgabe entwickelt hat. Dabei wird sie – bedingt auch durch Sally Hawkins Schauspielkunst - nie der Lächerlichkeit preisgegeben. Toll dargestellt wird aber auch, dass letztendlich die Wissenschaftler den Ruhm für das Auffinden der Gebeine für sich beanspruchen. Philippa ist aber mehr daran interessiert, bei jungen Leuten die Sicht auf Richard III zu ändern. Kurz gesagt: ″The Lost King″ ist ein Wohlfühlfilm, den man sich unbedingt im Kino ansehen sollte.
Zusatz 1: Die Universität von Leicester wirft dem Film übrigens einige Ungenauigkeiten vor, die sich vor allem auf die Zusammenarbeit und der Bezahlung der Grabungen und auf die Haltung des stellvertretenden Kanzler Richard Taylor beziehen.
Zusatz 2: Da der Verbleib von Richards Neffen im Tower immer noch nicht geklärt ist, obwohl es im 17. Jahrhundert Skelettfunde von 2 Jungen im richtigen Alter gegeben hat, die 1933 nach den damaligen Möglichkeiten medizinisch untersucht wurden, hat im Oktober 2022 König Charles III einem Archäologenteam die Genehmigung gegeben, DNA-Proben aus den geborgenen menschlichen Gebeinen zu entnehmen. Vielleicht kann dann endlich geklärt werden, ob die beiden Jungen wirklich im Tower gestorben sind. Ob allerdings Richard III direkt, indirekt oder überhaupt nicht am Verschwinden und der möglichen Ermordung der Prinzen im Tower beteiligt war, kann nach über 500 Jahren sicher nicht mehr geklärt werden.
Ebenso ist nicht sicher, wieweit Richard 1471 am Tod des 17jährigen Edward of Westminster, dem letzten Lancaster Prince of Wales, während oder nach der Battle of Tewkesbury beteiligt war. Sicher ist, dass Richard noch als Duke of Gloucester 1472 dessen 16jährige Witwe Anne Neville geheiratet hat. Allerdings scheint die Ehe der Beiden dann doch sehr harmonisch gewesen zu sein.
Foto 1: Richard III (Harry Lloyd) inspiriert Philippa Langley (Sally Hawkins) zu einem außergewöhnlichen Abenteuer © X Verleih AG
Foto 2: Philippa Langley (Sally Hawkins) überzeugt ihren Ex-Mann John (Steve Coogan) von ihrer Suche © X Verleih AG
Foto 3: Philippa Langley (Sally Hawkins) und Richard III (Harry Lloyd) auf dem Bosworth Field © X Verleih AG
Info:
The Lost King (Großbritannien 2023)
Originaltitel: The Lost King
Genre: Drama, Richard III
Filmlänge: ca. 108 Min.
Regie: Stephen Frears
Drehbuch: Steve Coogan & Jeff Pope
Darsteller: Sally Hawkins, Steve Coogan, Harry Lloyd, Mark Addy, James Fleet, Lee Ingleby, Amanda Abbington, Benjamin Scanlan, Adam Robb u.a.
Verleih: X Verleih AG
Vertrieb: Warner Bros. Entertainment
FSK: ab 6 Jahren
Kinostart: 05.10.2023