02 ANSELM c 2023 Road Movies photograph by Wim WendersSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 12. Oktober 2023, Teil 6

Hanswerner Kruse

Berlin (Weltexpresso) -  Regisseur Wim Wenders porträtiert Anselm Kiefer, einen der einflussreichsten deutschen Künstler der Gegenwart.


Große weiße Kleider aus festem Material stehen, weit entfernt voneinander, in einer kargen Landschaft. Die Kamera fährt nahe heran und wir erkennen verwelktes Gestrüpp, alte Ziegelsteine oder eisernes Geflecht als Köpfe der Gebilde. Die nächsten Bilder zeigen Türme, ebenfalls weit auseinander, aus aufeinander gestapelten Betonhütten. Schließlich befinden wir uns in einer verfallenen Industrieanlage, in der sich weitere weiße Wesen befinden. 

014 ANSELM c 2023 Road MoviesDas alles wird im milchigen Licht gefilmt, man hört sphärische Klänge oder geheimnisvolles Gewisper. So entführt uns Regisseur Wim Wenders, auch mittels der 3D-Technik, in die fantastischen Welten des Künstlers Anselm Kiefer. Den erleben wird dann in (s)einer alten gigantischen Fabrik im Süden Frankreichs. Seine Kunstanlage ist so ausgedehnt, dass er darin mit einem Fahrrad fährt, um seine archaischen Materialien oder angefangenen Objekte zu sichten. Später sehen wir, wie er mit einem Flammenwerfer Gestrüpp auf seinen riesigen Bildern ankokelt, flüssiges Blei dazu gießt oder mit einer Schaufel Farbe aufträgt. 

Ein kleiner Junge singt „Maikäfer flieg / Dein Vater ist im Krieg…“ Er steht wohl für den kleinen Anselm, der sporadisch immer wieder als biografisches Element im Film auftaucht. Aber das Kind spielt nicht den kleinen Anselm, sondern durch die Bilder mit ihm werden frühe Einflüsse auf Kiefers Sensibilität, Kreativität und Aggressivität spürbar. Ein Environment in Ruinen mit verstreuten Kleidern wird überblendet mit Bildern von Bombenabwürfen, Explosionen, Berliner Trümmerfrauen – und immer wieder erscheinen dazwischen Kiefers gigantische Tableaus mit Erde, Metall und Farben, dazu klagende Töne und Gesänge. 

Mit flüsternden Stimmen klingen Paul Celans Gedichtzeilen an: „…Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts / wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland…“. Die „Todesfuge“ des Dichters transformiert Kiefer in Bilder und lässt sie erfahrbar werden. Des Künstlers vielfältige Arbeiten sind immer von literarischen, historischen oder mythologischen Themen durchdrungen, die sich aber nicht intellektuell aufdrängen, sondern zu erleben sind.

Der Regisseur erklärt nichts aus dem Off: Mit seiner über 50-jährigen Filmerfahrung und allen cineastischen Möglichkeiten (Kamera, Schnitt, Perspektiven usw.) kreiert er ein poetisches Gesamtkunstwerk. Seine Bildererzählungen bringen uns Kiefers Leben und seinen Werken nahe. Bereits seit den 1960er-Jahren setzte sich der Künstler mit den verdrängten Naziverbrechen auseinander: „Er bohrte in den Wunden“. Zu Unrecht wurde er in Deutschland durch manche Aktionen als Nazi denunziert, im westlichen Ausland aber verstanden, anerkannt und gefeiert. Seine Arbeiten sind kein Politklamauk, sondern elegische Meisterwerke voller Trauer und Kraft, sie ermöglichen die intensive Berührung der Betrachter.

04 ANSELM c 2023 Road Movies photograph by Wim WendersMan könnte sagen, er schafft neue monumentale Dimensionen einer erhabenen Landschaftsmalerei, die den Betrachter nicht überwältigt. Diese gigantischen Objekte berühren nicht nur die Betrachter - sie spiegeln und dekonstruieren zugleich den einstigen Nazigrößenwahn in Kunst und Architektur. Natürlich ist das ein Seiltanz - den zeigt Wenders am Ende als Montage, in der Kiefer über Städte und Wälder auf einem Seil balanciert.

In den letzten Filmbildern trägt er den kleinen Jungen auf seinem Rücken und läuft durch die Landschaft der Anfangssequenz zu einem See. Wahrscheinlich zu weiteren neuen Ufern: „Ich fühle mich nicht angekommen, ich bin immer auf dem Weg“, sagt der Künstler.

Fotos
© Wim Wenders

„Anselm. Das Rauschen der Zeit“, D 2023, 93 Minuten, Filmstart 12. 10. 2023
Regie Wim Wenders mit Anselm Kiefer (er selbst), Daniel Kiefer (als jüngerer Mann) und Anton Wenders (als Junge)