Bildschirmfoto 2023 10 13 um 01.53.33Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 12. Oktober 2023, Teil 4

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) - Anselm Kiefer und ich wurden beide am Ende des zweiten Weltkriegs geboren – er ein paar Monate davor, ich ein paar Monate danach. Wir verbrachten unsere Kindheit in einem Land, das in Trümmern lag und dessen Selbstbild zerschmettert war. Ein Land voller Erwachsener – darunter Familienmitglieder und Lehrer – die verzweifelt versuchten, sich eine Zukunft aufzubauen und ebenso verzweifelt hofften, die Vergangenheit zu vergessen, oder so zu tun, als hätte es das Entsetzliche nie gegeben.

Während Anselm in Freiburg Jura studierte, war ich dort an der medizinischen Fakultät. Wir hätten uns begegnen können, aber wir schlugen unterschiedliche Wege ein. Er ging an die Kunstakademie
und ich an eine Filmhochschule.

Aber da die ersten Eindrücke die prägendsten sind, gibt es vieles, was wir teilen und in dem wir uns ähneln, auch wenn wir unsere Kindheitserfahrungen schließlich auf völlig unterschiedliche Weise verarbeiteten. Wir begegneten uns zum ersten Mal 1991, als Anselm seine große Ausstellung in der Nationalgalerie Berlin vorbereitete. Damals aßen wir fast täglich zusammen zu Abend, im „Exil“, das heute leider nicht mehr existiert. Wir rauchten, tranken und redeten stundenlang. Als ich seine Ausstellung sah, war ich hin und weg – ein absolut einmaliges und höchst beeindruckendes Erlebnis. Schon damals zogen wir in Erwägung, einen gemeinsamen Film zu machen. Es lag ja auf der Hand: Er ein Maler, der auch gerne Filmemacher geworden wäre, und ich ein Filmemacher, der gerne Maler geworden wäre. Aber während ich mit „Bis ans Ende der Welt“ und „In weiter Ferne so nah!“ beschäftigt war, zog Anselm nach Südfrankreich, ich dann bald nach Los Angeles, und wir verloren einander aus den Augen. Von Zeit zu Zeit waren wir jedoch in Kontakt, und die Idee des Films lebte weiter. Doch erst als ein gemeinsamer Freund mich mit nach Barjac nahm, wo Anselm fast dreißig Jahre lang gearbeitet und die unglaublichste und umfangreichste Topographie seines Oeuvres erschaffen hatte, wurde mir klar: jetzt oder nie! Die Landschaft beherbergt verschiedene architektonische Konstruktionen, zahlreiche Pavillons, unterirdische Krypten und sogar ein riesiges überdachtes Amphitheater - alles war völlig neu für mich. Als ich Anselm schließlich dort wiedertraf, schien es, als nähmen wir den Faden da wieder auf, wo wir ihn Jahre zuvor hatten fallen lassen. Kurz darauf besuchte ich Anselm in seinem jetzigen Atelier in Croissy in der Nähe von Paris, wo wir die Entscheidung, den Film endlich zu machen, mit einem Handschlag besiegelten.

Über einen Zeitraum von gut zwei Jahren drehten wir mehrfach in Barjac (ich musste es einfach in verschiedenen Jahreszeiten zeigen) und in Croissy. Wir filmten auch in den entlegenen Bergen des Odenwalds, wo sich Anselms erstes Atelier befand und wo er später ein altes Ziegelwerk renoviert hatte (nochmals ein ganz eigener Mikrokosmos seiner Arbeit.) Der Landstrich in der Nähe von Rastatt, wo er geboren ist und der Rhein waren weitere Drehorte. Hier entdeckten wir noch eine Gemeinsamkeit: die Rolle, die dieser große Fluss, an dessen Ufern wir an verschiedenen Orten gestanden hatten, in unserer Kindheit spielte. Anselm nahe der Quelle mit Frankreich auf der anderen Uferseite, und ich nah an Belgien, den Niederlanden und der Mündung ins Meer.

Ich hatte dabei nie vor, eine „Biografie“ zu drehen. Das Leben eines Menschen sollte seine Privatsache bleiben. Auch beim Film PINA war ich nie an Pina Bauschs Leben als Choreografin und Tänzerin interessiert. Die Privatsphäre ist heilig, oder vielmehr unantastbar. Aber das Werk, die Kunst, sind es wert, in einem Film erforscht zu werden. Sei es, um es selbst besser zu verstehen, oder besser noch, um es auf diesem Weg für andere sichtbar zu machen. Der beeindruckende Umfang von Anselms Werk, die Komplexität seiner Bezüge zu Mythologie, Geschichte, Alchemie, Astronomie, Physik und Philosophie schien zunächst schier überwältigend. Aber das Filmen und Aufsuchen der Orte, an denen er sein Werk erschaffen hat, klärten meinen Blick. Nach jedem Dreh habe ich mich jeweils im Schneideraum in das Material vertieft, um besser zu verstehen, wie es weitergehen könnte oder sollte.

Das 3D-Format war für das Unterfangen unerlässlich. Ich wage eine kühne Behauptung: Es gibt kein anderes Medium, das einem erlaubt, „so viel zu sehen“. Mir ist bewusst, dass dies den Eindruck von Arroganz erwecken kann oder ich meinen eigenen Vorurteilen erliege. Aber meine Behauptung stützt sich auf Fakten und Erfahrung. Immerhin habe ich so viel Material am Ende vieler Drehtage gesichtet, und einen solch großen Teil der Geschichte des Kinos gesehen, dass ich fähig bin, zu beurteilen, was auf der Leinwand vor den Augen „da ist“ oder da sein kann. Um ein 3D-Erlebnis aufzunehmen (außer es handelt sich dabei um ein überfrachtetes und Augenschmerzen verursachendes Action- oder Animationsspektakel) bedarf es anderer Hirnareale, als wenn man lediglich ein flaches Bild verarbeitet. Das Gehirn ist dabei deutlich stärker gefordert. Ich muss allerdings hinzufügen, dass dies nur der Fall ist, wenn beim Drehvorgang der Physiologie des Auges und dem Akt des Sehens Rechnung getragen wird.
Das ist es, was wir bei PINA und nun – mit weiterentwickelter Technik – bei ANSELM gemacht haben. Die 3D-Sprache (denn es ist nicht mehr und nicht weniger als eine eigene Sprache) erlaubt es, mehr zu „enthüllen“ und den Zuschauer mehr sehen zu lassen, als ein zweidimensionales Bild. 3D ermöglicht ein erstaunlich immersives, physisches, mentales Sich- Einlassen. Für mich ist 3D eine poetische Sprache. Aber das mögen Sie selbst beurteilen. Die filmische Sprache in ANSELM greift jedenfalls auf nichts zurück, was ich je zuvor gemacht habe. Wir schöpften dabei ausschließlich aus der Begegnung mit Anselm Kiefers Arbeiten. Ich spreche hier nicht im Pluralis Majestatis, sondern für die unmittelbar Beteiligten, meinen Kameramann Franz Lustig, meinen Stereographen Sebastian Cramer, meine Cutterin Maxine Goedicke und mich. Wir alle waren überwältigt davon, wie nah wir dem Werk des Künstlers kamen. Uns war bewusst, wieviel mehr wir aufgenommen hatten und weitergeben könnten. Das ist es, was der Film teilen möchte: ein umfassendes, reichhaltiges Naherlebnis.

Haben wir dabei wirklich einen „Dokumentarfilm“ gedreht? Dieselbe Frage hatte sich mir auch schon bei PINA gestellt, wo das, was wir gefilmt hatten, eine Art Fiktion gewesen war. Choreographie ist schiere Fiktion. Und auch bei der Montage von BUENA VISTA SOCIAL CLUB stellte sich mir damals die Frage: Ist das hier wirklich ein Musik-Dokumentarfilm, oder ist es nicht eher ein haarsträubendes „vom Tellerwäscher zum Millionär“-Märchen? Aus der Vergessenheit, der Bedeutungslosigkeit heraus zu den Beatles zu werden! Was ich am meisten an Dokumentarfilmen schätze, ist, dass sie ihre Form jedes Mal neu erfinden können.

Für ANSELM haben wir die erstaunlichsten Kunstwerke, Leinwände, Skulpturen, Zeichnungen, Gebäude und Landschaften gefilmt. Das gehört zum Dokumentarfilm dazu. Aber wir haben auch Szenen aus der Kindheit des Künstlers erfunden und sind tief in seine Geschichte eingetaucht. Dadurch lassen wir oft die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen. Diese Freiheit haben wir uns herausgenommen, denn wenn man mit Kunst konfrontiert ist, muss man sich selber frei machen, sonst wird man nicht Teil der Transzendenz, die sich vor den eigenen Augen abspielt. Der Film entwickelte sich ganz intuitiv und viele Szenen entstanden völlig spontan. Wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, wird mir klar: Ich wollte meine Dokumentarfilme eigentlich immer so drehen, als handelte es sich es um Fiktion.

Umgekehrt habe ich bei meinen Spielfilmen auch immer den dokumentarischen Aspekt gewahrt, den jede Filmarbeit beinhaltet, egal, wer oder was vor der Kamera steht. Orte oder Menschen – und dazu gehören für mich auch Schauspieler – haben es verdient, so gesehen zu werden, wie sie sind und wie sie sein wollen, sein könnten oder gewesen sein könnten. Tatsächlich verfolgen die existierenden Kategorien „Dokumentar- oder Spielfilm“ nur den Zweck, Erfahrungen zu klassifizieren und zu benennen und erweisen sich daher oft eher als kontraproduktiv.
Was wünsche ich mir für das Publikum von ANSELM? Dass es Kategorien, Haltungen und alle vorgefertigten Meinungen darüber, was Kunst sein oder erreichen kann, hinter sich lässt und so ohne „Vor-Bild“ oder „Vor-Urteil“ die unglaubliche Vielfalt dieses deutschen Romantikers, Dichters, Denkers und Visionärs Anselm Kiefer in sich aufnehmen kann.
  
Foto:
© Gerhard Kassner

Info;
„Anselm. Das Rauschen der Zeit“, D 2023, 93 Minuten, Filmstart 12. 10. 2023
Regie Wim Wenders mit Anselm Kiefer (er selbst), Daniel Kiefer (als jüngerer Mann) und Anton Wenders (als Junge)