Hanswerner Kruse
Frankfurt (Weltexpressoi) - Die enorme Bandbreite ihres Könnens zeigt Sandra Hüller in „Anatomie eines Falls“, in der sie verletzlich, durchtrieben, kämpferisch, traurig, mütterlich und feministisch die Schriftstellerin Sandra gibt, die für den tödlichen Fenstersturz ihres Mannes verantwortlich sein soll.
Die Erzählung beginnt zunächst wie ein anspruchsvoller Tatort-oder Polizeiruf-Film (ja, die gibt es auch) und endet als Gerichtsfilm. Sandras elfjähriger, fast blinder Sohn Daniel (wunderbar gespielt von Milo Machado Graner), findet die Leiche seines Vaters im Schnee und ruft weinend seine Mutter, die sich nach einem Interview mit einer Studentin schlafen gelegt hatte. Die Polizei taucht auf und glaubt nicht an einen Unfall oder Selbstmord, bald fällt der Verdacht auf die Autorin, ihn aus dem Fenster des relativ hohen Hauses geschubst zu haben.
Schließlich taucht ihr Freund und Anwalt Vincent (Swann Arlaud) auf, er glaubt auch nicht so recht an ihre Unschuld. „Stopp, ich habe ihn nicht getötet“, ruft Sandra in dessen intensiver Befragung. Natürlich beschäftigen sich alle - also die Polizei, der Anwalt, Sandra, sowie ihre Freundinnen, der Sohn - und schließlich auch wir mit der Frage: Wie ist Samuel (Samuel Theis) zu Tode gekommen, gibt es überhaupt einen Täter oder eine Täterin? Gutachter und andere Fachleute werden befragt. Und auch wir Zuschauer sind irgendwann verunsichert: Hat die Schriftstellerin ihren Mann umgebracht oder nicht?
Durch einen harten Schnitt befinden wir uns ein Jahr später im Gerichtssaal. Sandra wird angeklagt und nun geht es natürlich brutal um ihre vermeintliche Schuld. Es gibt keine Zeugen, die Indizien und Überlegungen der Gutachter sind widersprüchlich oder fragwürdig. Mehr und mehr wenden sich die Juristen, besonders ein wütender Staatsanwalt, der Persönlichkeit der Angeklagten zu. Sie soll als kaltes, verlogenes, promiskuitives Weib hingestellt werden. Als „Beweis“ werden Auszüge aus ihren Büchern hinzugezogen, die nicht biografisch geschrieben, aber von ihren Erfahrungen beeinflusst sind: letztlich aber fiktive Geschichten bleiben.
Auch die Aussagen des Psychiaters ihres Mannes, bei dem sich der Tote ausgeheult hatte, sollen als Beweise für die Niedertracht Sandras herhalten. Samuel, ebenfalls Schriftsteller, trug die Schuld am Unfall des Sohnes, der dadurch fast erblindete. Als Jammerlappen versank er in Schuldgefühlen, ließ sich hängen, konnte nicht mehr schreiben - und machte seine Frau dafür verantwortlich: Sie sei eiskalt, egoistisch und machthungrig: „Wir machen immer nur was Du willst!“ Das kolportiert der psychiatrische Fachmann unkritisch vor Gericht.
So wird im Verhandlungssaal aus der Suche nach der Frage zur Schuld, langsam die Rekonstruktion eines Beziehungsdramas, auch durch weitere Zeugenaussagen aus dem Bekanntenkreis der Autorin und heimliche Handy-Mitschnitte des Sohnes von Streitereien der Eltern. Doch eine überraschende Wendung des Falles geschieht durch die letzte Aussage des elfjährigen Kindes...
Die werden wir hier natürlich nicht verraten.
Was nachträglich besonders auffällt, an diesem eigens von der Regisseurin Justine Triet für Sandra Hüller geschriebenen Film, ist, dass die wichtigsten handelnden Personen die Vornamen ihrer Akteure tragen. Vielleicht soll das die Allgemeingültigkeit des Films deutlich machen - es geht nicht um eine abstrakte Erzählung, sondern fast lehrbuchhaft um die Konstruktion von individueller Wahrnehmung.
Was letztlich „die Wahrheit“ ist, ob es überhaupt eine gibt, bleibt in dem großartigen cineastischen Werk am Ende offen und dem Publikum überlassen.
Fotos:
© Les Films Pelleas
Info:
"Anatomie eines Falls", Frankreich 2023, 150 Minuten, Filmstart 2. November 2023
Regie Justine Triet mit Sandra Hüller, Milo Machado Graner, Swann Arlaud, Samuel Theis und andere
Hintergrund Sandra Hüller