Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 18. Januar 2024, Teil 5
Margarete Ohly-Wüst
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Im London des 19. Jahrhunderts steht eine junge, schwangere Frau mit langem pechschwarzem Haar und einem blauen Kleid auf einer Brücke und stürzt sich in die Tiefe. Ihr Leichnam gerät in die Hände des brillanten aber exzentrischen Arztes Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe), der sie auf unkonventionelle Weise zu retten versucht.
Der Arzt hat der jungen Frau, die er Bella (Emma Stone) nennt, das Gehirn ihres ungeborenen Babys eingepflanzt. Dadurch ist sie zwar körperlich erwachsen, aber geistig auf dem Niveau eines Kindes und beginnt erst langsam sich zu einem Mädchen und dann zu einer jungen Frau mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu entwickeln. Bella wird von Dr. Baxter und seiner Haushälterin Mrs. Prim (Vicki Pepperdine) in seinem Stadthaus mit großem Garten betreut und unterrichtet, das neben Bella noch viele seltsame Tiere beherbergt.
Godwin Baxter, der von Bella nur God genannt wird, möchte beobachten, wie sich das Babygehirn in ihrem erwachsenen Körper entwickelt und stellt mit Max McCandles (Ramy Youssef) einen Medizinstudenten als Assistenten ein, der Bellas Fortschritte beobachten und aufzeichnen soll. Dem wird erzählt, dass Bella eine Waise mit Hirnschädigung sei.
Doch es stellt sich schnell heraus, dass sie nicht nur ein kindliches Gemüt, sondern hauptsächlich einige Defizite im sozialen Bereich hat. Das wird besonders deutlich, als sie beginnt ihre Sexualität zu entdecken und dies auch freimütig ihrer Umgebung mitteilt. Max, der zuerst einmal geschockt ist, beginnt sich in die unkonventionelle junge Frau zu verlieben, was Dr. Baxter sehr gefällt. Der drängt Max daraufhin zu einem Heiratsantrag, unter der Bedingung, dass das Paar weiterhin mit Dr. Baxter zusammen wohnt.
Als eine Ehe zwischen Max und Bella geschlossen werden soll, trifft Bella den Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo), der Bella dazu überreden will, nicht Max zu heiraten, sondern zusammen mit ihm durchzubrennen. Wedderburn will ihr die Welt jenseits des Hauses und der Wissenschaft zeigen. Dr. Baxter lässt sein Geschöpf ziehen, so dass Bella mit Duncan Wedderburn weggehen kann, denn der verspricht ihr ekstatische körperliche Sinneserlebnisse und aufregende Abenteuer.
Dadurch entdeckt Bella nicht nur den Sex und die Masturbation, sondern erlebt auch auf ihrer Reise durch Europa und Nord-Afrika viele sinnliche Genüsse und Abenteuer, sei es in Lissabon den Fado, in Alexandria ihr soziales Gewissen oder in Paris ihre sexuelle Unabhängigkeit. All das führt aber auch zu Spannungen in ihrer Beziehung zu Wedderburn, denn Bella beginnt sich mit sozialistischen Ideen und dem aufkeimenden Feminismus vertraut gemacht. Dabei entwickelt sie sich zu einer Forscherin, Abenteurerin und Entdeckerin ihres sexuellen Selbst. Dadurch wächst sie nicht nur aus ihrer Abhängigkeit von Wedderburn hinaus, sondern merkt auch, dass sie ihre neu erworbenen Fähigkeiten am Besten zu Hause in London entfalten kann. Doch Duncan Wedderburn hat noch ein sehr unangenehmes Ass im Ärmel…
Der Film ″Poor Things″ basiert auf auf dem schwarz-humorigen Roman Poor Things: Episodes from the Early Life of Archibald McCandless M.D., Scottish Public Health Officer (1992) des schottischen Autors Alasdair Gray (1934 – 2019), in dem über eine feministische Variation von Mary Shelleys Frankenstein (1818) erzählt wird. Die Erzählung ist eine Abkehr von Grays üblichen Themen, allerdings greift der im viktorianischen Großbritannien spielenden Roman wiederum frühere Inhalte des Autors hinsichtlich sozialer Ungleichheiten, Beziehungen, Erinnerung und Identität auf.
Regisseur des britischen Spielfilms ist der Grieche Yórgos Lánthimos, der bereits mit seinen letzten Arbeiten ″The Lobster″ (2015), ″The Killing of a Sacred Deer″ (2017) und ″The Favourite″ (2018) viele Auszeichnungen gewonnen hat.
Yórgos Lánthimos lässt den Film zu Beginn fast nur schwarzweiß bevor er dann doch farbig wird, dadurch zeigt er die langsame Entwicklung und Emanzipation der Bella Baxter auf. Der Regisseur lässt das Drama in einer etwas märchenhaften viktorianischen Zeit spielen. Doch als Bella dann durch die verschiedenen Städte in Europa und Nord-Afrika reist, wirken diese Städte wie betont künstliche und theaterhafte Kulissen. Dabei hat ″Poor Things″ genau den gleichen beißenden und trockenem Humor schon wie bei Lánthimos’ letzten Film ″The Favourite″.
Der Fantasyfilm strotzt dabei mit kleinen und großen amüsanten und bizarren Einfällen. Das beginnt schon damit, dass die unbedarfte Bella sich nicht an ihrer seltsamen Umgebung (incl. den im Garten lebenden zusammen operierten Tieren) und an den medizinischen Versuchen ihres ″Vaters″ stört, denn sie schaut nicht nur zu, sondern legt auch begeistert Hand an.
Als Zentrum des Films sollte man aber die Darsteller sehen. Dabei muss zu aller erst Emma Stone genannt werden, die nach ″The Favourite″ - als Abigail Masham - auch dieses Mal wieder eine Rolle in einem Film des griechischen Regisseurs übernommen hat. Jetzt steht sie allerdings im Mittelpunkt der Story als die attraktive und freiheitsliebende Bella Baxter, die im England des 19. Jahrhunderts von den Toten wiederaufersteht und dann beginnt sich über ihre Zeit hinaus zu emanzipieren.
Auch wenn Emma Stone durch ihre schauspielerische Leistung alle anderen Darsteller in den Schatten stellt, kann vor allem Mark Ruffalo als Duncan Wedderburn, der in Bella ihre sexuellen Vorlieben erweckt, als selbstherrlicher, großkotziger und reicher Liebhaber überzeugen. Daneben stellt er auch wunderbar die Arroganz und das Beleidigtsein des sitzengelassenen Mannes mit seiner kontrollierenden egoistischen Art dar. Wie nachtragend er ist, zeigt sich dann sehr deutlich gegen Ende des Films, wenn er Bella bestrafen will, obwohl er persönlich eigentlich nichts davon hat.
Aber auch Willem Dafoe kann als entsetzlich entstellter Dr. Godwin (″God″) Baxter überzeugen. Es wird während des Films deutlich, wieso der Mann so aussieht und welche furchtbare Kindheit er hatte. Dafoe zeigt aber auch sehr schön, dass der Arzt wie ein Vater sein Geschöpf gehen lassen muss, nachdem es eine gewisse Reife erlangt hat und beginnt die Welt jenseits des Hauses mit unstillbarem Interesse und riesengroßer Energie zu erkunden.
Regisseur Yórgos Lánthimos gewann 2023 für den Film den Goldenen Löwen, den Hauptpreis des 80. Filmfestivals von Venedig. Daneben gab es auch sehr viele weitere Nominierungen und Preise bei renommierten Festivals und Awards.
So erhielt ″Poor Things″ z.B. bei den Golden Globe Awards 2024 sieben Nominierungen und zwar als bester Film – Komödie/Musical, Yórgos Lánthimos für die beste Regie, Tony McNamara für das beste Drehbuch, Emma Stone als beste Hauptdarstellerin – Komödie/Musical, Jerskin Fendrix für die beste Filmmusik sowie Willem Dafoe und Mark Ruffalo als beste Nebendarsteller. Gewonnen haben ″Poor Things″ als bester Film und Emma Stone als beste Hauptdarstellerin.
Bei den Critics’ Choice Movie Awards 2024 erhielt das Drama 13 Nominierungen und zwar u.a. als bester Film, als beste Komödie, Yórgos Lánthimos für die beste Regie, Tony McNamara für das beste adaptierte Drehbuch, Emma Stone als beste Hauptdarstellerin, Mark Ruffalo als bester Nebendarsteller, Robbie Ryan für die beste Kamera oder Jerskin Fendrix für die beste Filmmusik. Gewonnen hat dann allerdings nur Emma Stone als beste Hauptdarstellerin.
Bei den Screen Actors Guild Awards 2024 erhielten Emma Stone als beste Hauptdarstellerin und William Defoe als bester Nebendarsteller Nominierungen. Die Verleihung ist am 24. Februar 2024.
Sicher wird "Poor Things" auch Oscar-Nominierungen bekommen. Die werden aber erst am 23. Januar 2024 bekannt gegeben.
Insgesamt ist ″Poor Things″ eine wunderbar facettenreiche Emanzipationserzählung, bei der Bella Baxter – hervorragend gespielt von Emma Stone - viele neue Eindrücke kennen lernt und Erfahrungen sammelt mit körperlichen und geistigen Genüssen, vom Sex über Essen und Alkohol bis hin zu Musik, Tanz und Literatur. Der Film zeigt aber auch deutlich, dass Männer möglicherweise darüber reden, dass sie emanzipierte Frauen wollen, wenn es aber darauf ankommt, reagieren sie schnell ganz anders. Natürlich muss man als Zuschauer bereit sein, sich auf die absurde Story einzulassen, denn dann erlebt man einen wunderbar gelungenen Film voller inszenatorischen Einfälle, der dann unbedingt sehenswert ist.
Foto 1: Ramy Youssef als Max McCandles und Emma Stone als Bella Baxter © 2023 20th Century Studios
Foto 2: Willem Dafoe als Dr. Godwin Baxter © 2023 20th Century Studios
Foto 3: Emma Stone als Bella Baxter und Mark Ruffalo als Duncan Wedderburn © 2023 20th Century Studio
Foto 4: Mark Ruffalo als Duncan Wedderburn © 2023 20th Century Studios
Info:
Poor Things (USA 2023)
Originaltitel: Poor Things
Genre: Drama, Fantasy, Sci-Fi, Romanze, Komödie
Filmlänge: ca. 141 Min.
Regie: Yórgos Lánthimos
Drehbuch: Yórgos Lánthimos, Tony McNamara
Darsteller: Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Christopher Abbott, Hanna Schygulla, Jerrod Carmichael, Suzy Bemba, Kathryn Hunter, Vicki Pepperdine, Margaret Qualley, Damien Bonnard u.a.
Verleih: Walt Disney Motion Pictures Germany
FSK: ab 16 Jahren
Kinostart: 18.01.2024