Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 8. Februar 2024, Teil 5
Margarete Ohly-Wüst
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Adam (Andrew Scott) schreibt Drehbücher für Filme und für das Fernsehen. Der Mid-40er lebt allein in einem fast leeren Hochhaus im modernen London, während seine Freunde inzwischen alle mit ihren Familien London verlassen haben. Wenn er nicht schreibt, verbringt er seine Nächte vor dem Fernseher und knabbert Chips. Etwas Abwechslung bringt sein neues Schreibprojekt – ein autobiografisches Skript - und sein mysteriöser Nachbar Harry (Paul Mescal), der eines Tages etwas angetrunken vor Adams Tür steht.
Adam beginnt sich für Harry zu interessieren. Beide kommen sich näher und Adam erzählt ihm von seiner Kindheit und davon, dass er ein Buch über seine Eltern und sein Leben schreiben will. Dazu fährt er auch nach außerhalb von London zum Haus seiner Eltern. Dort trifft er auf seine Mutter (Claire Foy) und seinen Vater (Jamie Bell). Beide sind bereits vor 30 Jahren bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt. Adam sieht sie dort immer noch jung, während er sein normales Alter hat.
Adam verbringt viel Zeit mit den Geistern seiner toten Eltern. Er erzählt ihnen von seinem Leben und seiner Homosexualität. Seine Mutter reagiert etwas abweisend, während sein Vater damit keine Probleme hat. Die Familie feiert zusammen Weihnachten, und Adam spricht vor allem viel mit seinem Vater. Regelmäßig reist Adam zwischen der Einsamkeit in seiner sterilen Wohnung im Hochhaus und der Wärme seines Kinderzimmers in seinem Elternhaus hin und her.
Gleichzeitig kommen sich Adam und Harry in Adams Wohnung immer näher. Zwischen den beiden entsteht eine tiefe Verbundenheit. Adam nimmt Harry sogar mit zum Haus seiner Eltern – allerdings ist das Haus verlassen, wenn sie ankommen. Hat Adams lange Einsamkeit und Trauer dazu geführt, dass er plötzlich nicht mehr zwischen Realität und Traum unterscheiden kann?
Regisseur und Drehbuchautor von ″All of Us Strangers″ ist Andrew Haigh. Das Drehbuch basiert auf dem Roman ″Sommer mit Fremden″ (1987) des Japaners Taichi Yamada. Allerdings hat der Drehbuchautor in Yamadas Roman eine mysteriöse weibliche Geliebte.
Andrew Haighs Film zeigt gleich zu Beginn, dass Adam sich eigentlich wegen seiner Einsamkeit eine tiefe Verbindung wünscht. Deshalb nähern sich Adam und Harry langsam aneinander an, denn auch Harry hat seine eigenen Probleme. Dies zeigt der Regisseur in wunderbar nachdenklichen Bildern. Es wirkt als wären die Beiden nicht nur die einzigen Bewohner des gesamten Hochhauses, sondern auch der Umgebung.
Gleichzeitig setzt sich Adam aber auch mit den Problemen seiner Kindheit auseinander, denn da seine Eltern früh verstorben sind, konnte er ihnen seine weitere Entwicklung – und damit seine Homosexualität – nicht mitteilen. Dies ist dann auch ein wichtiges Gesprächsthema bei jedem Besuch bei seinen seit 30 Jahren nicht gealterten Eltern.
Während des gesamten Films wird eigentlich nie deutlich, ob Adams Begegnungen mit seinen Eltern nur als der Teil seines Schreibprozesses sind. Sind sie Teile eines Dialogs, den Adam mit sich selbst führt, während er über seine stagnierende Karriere nachdenkt? Denkt er darüber nach, wie seine Eltern wohl auf seine sexuelle Orientierung reagiert hätten? Oder gibt es vielleicht doch Geister, die weiter im Haus der Eltern wohnen (das wohl nicht wieder vermietet, verkauft oder verändert wurde)?
Doch vermutlich geht es Andrew Haigh weniger darum, wie real die Erscheinungen sind, sondern was sich durch Adams Begegnungen mit seinen Eltern und auch mit Harry bei ihm emotional verändert.
Der Film ist eigentlich ein vier Personen Stück, denn außer Andrew Scott als Adam gibt es nur noch Paul Mescal als Harry, Jamie Bell als Dad und Claire Foy als Mum (die beide keine Namen haben).
Andrew Scott spielt Adam als einen Mann weniger Worte, deshalb muss er Adams Emotionen meist non-verbal auszudrücken. Dies schafft der Darsteller, der vor allem als Moriarty in der TV-Serie ″Sherlock″ bekannt wurde, ganz hervorragend. Dabei liefert Andrew Scott eine echte Tour de Force ab. Zu Recht erhielt der irische Schauspieler für seine Darstellung auch Nominierungen und Gewinne für verschiedene Awards, so z.B. eine Nominierung als bester Hauptdarsteller Drama bei den Golden Globes 2024. Dort hat er dann allerdings gegen einen anderen irischen Darsteller verloren, denn Cillian Murphy hat dort für seine Darstellung von J. Robert Oppenheimer in ″Oppenheimer″ gewonnen.
Aber auch Paul Mescal als Harry, Jamie Bell als Dad und Claire Foy als Mum liefern wunderbare Performances ab, die lange im Gedächtnis hängen bleiben und die teilweise auch durch Nominierungen bei verschiedenen Awards gewürdigt wurden.
Der Film selbst erhielt zu Recht viele weitere Nominierungen, neben Andrew Scott als bester Hauptdarsteller u.a. auch als bester Film, sowie Andrew Haigh für die beste Regie und das beste Drehbuch. So erhielt der Film z.B. bei den British Independent Film Awards im Dezember 2023 mit 14 die meisten Nominierungen und gewann dort 6, u.a. auch als bester Film und Paul Mescal als bester Nebendarsteller.
Bei den British Academy Film Awards (BAFTA) erhielt ″All of Us Strangers″ 6 Nominierungen, u.a. als bester Britischer Film, Paul Mescal als bester Nebendarsteller, Claire Foy als beste Nebendarstellerin, Andrew Haigh als bester Regisseur und für das beste adaptierte Drehbuch. Die Gewinner werden am 18. Februar 2024 bekannt gegeben.
Regisseur Andrew Haigh erzählt eine phantastisch-übersinnliche Liebesgeschichte über eine Reise in die Vergangenheit, die zu einer Reise in die Zukunft wird. Dabei ist ″All of Us Strangers“ großartig, sehenswert und ergreifend. Die Besetzung ist hochkarätig, die Bilder sind atemberaubend und das Thema ist auch heute noch wichtig. Denn der Film ist dann am spannendsten, wenn er sich mit einem leider auch heute noch wichtigen Thema beschäftigt: der besonderen Einsamkeit, mit der viele schwule Männer heute noch leben müssen.
Insgesamt ist "All of Us Strangers" ein Drama, das den Zuschauer in die Welt der Erinnerungen und Sehnsüchte entführt. Dabei zeigt er auf gefühlvolle und beeindruckende Weise wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbunden sind. Das berührende und melancholische Meisterwerk ist im Kino unbedingt sehenswert.
Foto 1: Adam (Andrew Scott) © 2023 Searchlight Pictures
Foto 2: v.l.n.r.: Dad (Jamie Bell), Adam (Andrew Scott) und Mum (Claire Foy) © 2023 Searchlight Pictures
Foto 3: Adam (Andrew Scott) und Harry (Paul Mescal) © 2023 Searchlight Pictures
Info:
All of Us Strangers (Großbritannien, USA 2023)
Originaltitel: All of Us Strangers
Genre: Science-Fiction, Drama
Filmlänge: ca. 105 Min.
Regie: Andrew Haigh
Drehbuch: Andrew Haigh, basierend auf dem Roman ″Sommer mit Fremden″ von Taichi Yamada, in Deutschland 2007 erschienen.
Darsteller: Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell, Claire Foy u.a.
Verleih: Walt Disney Studio Motion Pictures GmbH
FSK: ab 12 Jahren
Kinostart: 08.02.2024