IMG 1312Vor der Berlinale 2024 (7)

Hanswerner Kruse

Berlin (Weltexpresso) - Der gigantische Bauzaun am Potsdamer Platz ist tatsächlich verschwunden, die neue Straße fertig gebaut, das Berlinale-Programm mit etwas Verspätung gedruckt und überall ausgelegt. Am Donnerstag gab es die vorletzten Vorab-Aufführungen für die Presse von Festival-Filmen der Sektionen Panorama und Special.

 

In der Sektion Panorama wurde unter dem Titel „The Visitor“ eine britische Neufassung von Pier Paolo Pasolinis „Teorema“ präsentiert, die sich sehr eng an der antikapitalistischen Vision des radikalen Italieners orientiert. Jedoch steigt jetzt ein knackiger, nackter schwarzer Flüchtling aus der Themse, während aus dem Off die rassistische Rede eines englischen Politikers ertönt: „We don’t need black aliens!“ Der schwarze Gast verführt, wie im italienischen Original, alle Mitglieder der großbürgerlichen Familie – aber nicht hintereinander, sondern auch in schwulen oder inzestuösen Dreier-Situationen. Die Szenen werden „explizit“ gezeigt, so das moderne Wort für pornografisch.

"Sexual Revolution Of The Proletariat!
"Vote For Sex Change!"
"Anal Liberation - Now!"
Durch diese und ähnliche  Einblendungen während der Orgien, changiert das Remake wirklich zwischen ethischem Pornofilm und übertriebener Persiflage des Antikapitalismus von Pasolini. Reihenweise verließen die Kollegen und Kolleginnen angewidert die Vorstellung. Zum Schluss geht auch der Gast aus dem Film und schimpft, dass er hier nicht für die Spießer den Exoten geben möchte.

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Am gleichen Tag gab es ebenfalls in Panorama den Film „Teaches of Peaches“, der radikalen Sängerin und Performance-Künstlerin Peaches (Merrill Nisker). Auch mit 54 Jahren tobt sie lasziv und halbnackt mutig über die Bühne, zwischen Punk-Krawall und Sex-Schau sieht man sie auch bei ihrer Welttournee 2022 (Foto links noch angezogen). 




Also gestern eher ein erotischer Tag der Vorab-Berlinale, heute am Freitag durfte ich - in der Reihe Special - der einstündigen Gehmeditation eines Buddhisten in Taipeh/Taiwan zusehen: „Wu Suo Zhu“ ist absolut belanglos und völlig uninteressant. Sinnvoll wäre noch die Konfrontation seiner eigenen mit der ihm umgebenden Welt gewesen, aber durch belebte Orte ging er nur ganz, ganz selten. Meist taperte er durch die Natur, leere Straßen und am Wasser entlang. Viele Presseleute sind mal wieder gegangen, die anderen und ich sind lediglich geblieben, weil wir auf irgendeine Pointe oder Erlösung hofften.

202402118 1 RWD 2400Doch zum Trost es gab einen schönen Abschiedsfilm in Panorama, von dem ich hier nur den Anfang erzähle (mehr dürfen wir vorab ja sowieso nicht beschreiben oder kommentieren).In „Alle der Du bist“ wird eine Frau in den Keller einer Fabrik gerufen, weil sich dort ihr Mann Paul verbarrikadiert hat. Eigentlich sollte er in einem Büro ein Vorstellungsgespräch führen, doch aufgrund einer seiner gelegentlichen Panikattacken wollte er sich verstecken und retten.

Seine Frau Nadine geht furchtlos durch die Kellertür – und krault lange einen echten Stier und flüstert ihm zu: „Du brauchst Dich nicht zu fürchten.“ Dann nimmt sie ihn, mittlerweile ist ihr Paul ein kleiner Junge geworden, auf den Schoß und tröstet ihn. Mit dem etwas später Herangewachsenem geht sie zum Chef, damit Paul sich entschuldigen kann. Dann fahren sie nach Hause, der Ehemann ist mittlerweile eine ältere, fürsorgende Frau geworden…

Den wirklichen Paul lernen wir in den Rückblenden erst später kennen. Der Film ist ein humorvolle, kämpferischer und ganz und gar nicht larmoyanter Film über Arbeitslosigkeit im Osten nach der Wende.

Hier geht’s zum ausführlichen Berlinale Programm
Es lohnt sich darin zu lesen, auch wenn man nicht nach Berlin kommt.

Fotos:
Der Autor auf der Berlinale © Hanswerner Kruse
Peaches auf ihrer Tournee 2022  © © Avanti Media Fiction
Nadine & Paul  in "Alle der Du bist" © Contando Films, Studio Zentral, Network Movie