Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll, die hinreißenden Aufnahmen von bröselndem Stein, der aus großen Stücken in Tausende von Einzelteilen zerfällt, die sich in bestimmter Bewegung ineinander-, aber auch gegeneinander bewegen, sich anziehen, abstoßen, verschlingen, bis man ganz eindeutig vor sich ein wogendes Meer sieht, die Wellen, die überschwappen übereinander, die Strudel, die weiteres Wasser hinunterziehen – aber es sind die ganze Zeit Steine, die immer kleiner werden und so den Eindruck von Wasser und Wellen evozieren. Unglaublich.
Aber das ist nur die ästhetische Seite des Films, die schon ausreichen täte, für ihn zu werben. Inhaltlich geht es um etwas ganz anderes. Um das Zentrale unseres Leben. Wie wir denn leben wollen, wo und worin. Victor Kossakovsky fragt in diesem Film, der als ‚Dokumentarische Form‘ benannt ist, schlicht, aber folgerichtig, warum wir heute so häßliche Gebäude aus Zement/Beton bauen, die noch dazu im Schnitt nur 40 Jahre halten, während in der Antike und davor, danach auch, für die Ewigkeit gebaut wurde. Und dies ist ja nicht nur eine Behauptung, sondern er zeigt es im Bild. Und wenn er die Tempelruinen von Baalbek im Libanon aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. zeigt, stockt einem erneut der Atem. Aber das ist nur der Anfang.
Zum Weiterschauen hat er sich in die damals von Rom, später auch Byzanz beherrschten Gebiete in Vorderasien begeben. Hauptsächlich in die Türkei, wo im Inneren völlig vergessene imperiale römische Bauten, Amphitheater und Tempel, noch heute monumental ihre Säulen in den Himmel strecken und immer wieder sieht man auch erhaltene Bögen, die den Jahrtausenden strotzen. Der Schlußstein hält, aber der war eine mittelalterliche Konstruktion der Kirchen. Dir Römer konnten es trotzdem schon.
Wer sich auskennt, denkt unwillkürlich an Dekapolis, den Verbund der zehn Städte, im Hellenismus errichtet und noch heute im Gebiet von Syrien und Jordanien zu besichtigen. Mauern für die Ewigkeit. Seltsam, das läßt sich Victor Kossakovsky entgehen, daß es doch die Römer waren, die den Zement erfunden haben, erstmals angewandt in einer Zusammensetzung, die hält und nicht wie heute oft nach Jahren schon zerbröselt. Der Filmemacher wird im Pressegespräch darauf hinweisen, daß die originale Zusammensetzung des römischen Betons bis heute nicht genau rekonstruierbar ist. Die Folgen schon. Der römische Beton hält bis heute, die modernen Bauten zerfallen, bzw. haben Risse und Einbrüche nach ein paar Jahrzehnten.
Die Römer also, sie nannten ihre Mischung Opus caementicium, aber der heutige Zement ist erst nach der Aufklärung als neuer Baustoff ‚erfunden‘ worden und gibt man ihm weiteres Wasser, Sand und Beton wird Beton daraus. Doch will man Mörtel gewinnen, läßt man den Kies weg und fügt nur Wasser und Sand hinzu. Eine Wissenschaft für sich, die aber jedem Hobbyhandwerker geläufig ist. Nicht aber der historische Hintergrund.
Das nur nebenbei. In der Hauptsache sieht man im Film Steine, unglaublich große Steine und kaum mehr wahrnehmbare auch. Da muß man gar nicht an die Megalith-Kultur denken, auf die Kossakovsky gar nicht zu sprechen kam, was auch nicht sein muß, denn sein Interesse sind die nicht die Steine an und für sich, sondern, wie sie und in welcher Form für die Menschen nutzbar sind. Seine Botschaft, die zudem völlig richtig ist, heißt: verwendet das Material, das hält, baut wie die Vorfahren Häuser für die Ewigkeit und nicht diesen Rums, der in ein paar Jahrzehnten zusammenfällt.
Der Film beginnt, daß einem der Atem stockt. Das sind Kriegsbilder, nicht nur von alleine zerfallende Häuser. Sie sind in einer Dichte und Dimension fotografiert, ganz langsam gleitet das Auge der Kamera darüber hinweg, es hört überhaupt nicht auf, was wir von den Resten menschlicher Behausung sehen, wenn noch die Bücherwand steht oder der gedeckte Küchentisch. Eine Katastrophe nach der anderen, ein zerstörtes Leben nach dem anderen wird sichtbar.
Doch es sind nicht Kriegsbilder, sondern Erdbilder, Erdbebenbilder aus der Türkei nach jenem verheerenden Erdbeben der Stärke 7,8 Anfang 2023. „Fels und Stein verbinden die verschiedenen Gesellschaften miteinander: fest in der Erde steckende, geisterhafte Monolithen genauso wie große Haufen von Betonschutt, die auf den Abtransport und die Wiederverwertung warten.“
Ein Großteil des Films besteht aus einer Aktion, einem landschaftsgärtnerischen Projekt des italienischen Architekten Michele De Lucchi, das er mit Hilfe zweier Gartenarbeiter herstellt und bei dem wir buchstäblich dabei sind. Erst schlägt er einen Kreis in ein Rasenstück und wird dann kreisrund die Erde um die Zentimeter ausheben lassen, die es braucht, damit helle Steine einen guten Halt in der Erde finden, die nur einige Zentimeter frei stehen, so daß wir ein Steinrund vor uns sehen. Daß er ausgerechnet beim Graben dann auch noch eine kreisrunde Scheibe findet, deren Funktion niemand erkennt, gehört zu den Zufälligkeiten, die Leute sagen lassen: Zufälle gibt es nicht.
Und die Musik! Sie hilft, die vielen Steine noch besser zu ertragen. Es ist Programmusik. Wir hören die Steine rumpeln, aufprallen, aber auch tanzen und hüpfen, daß es nur so eine Freude ist. Ein wunderschöner Film!
Foto:
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Info:
von Victor KossakovskyDeutschland / Frankreich / USA 2024
Italienisch, Englisch, Untertitel: Englisch
Stab
Regie Victor Kossakovsky
Buch Victor Kossakovsky
Kamera Ben Bernhard
Montage Victor Kossakovsky, Ainara Vera
Musik Evgueni Galperine