Internationale Filmfestspiele Berlin vom 15. bis 25. Februar 2024, Wettbewerb Teil 22
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Naja, möglich ist alles. Ich habe schon BERLINALEN erlebt, wo der für mich schlechteste, ja gräßlichste Film im Wettbewerb den Hauptpreis, den für den besten Film, den Goldenen Bären, gewonnen hat. Das fängt ja schon damit an, welcher Film überhaupt für den Wettbewerb zugelassen und eingeladen wird. Er muß gewissermaßen jungfräulich sein, darf noch nicht öffentlich gezeigt worden sein, sonst könnte man nicht verstehen, warum beispielsweise SEVEN VEILS von Atom Egoyan, die Verfilmung einer Operninszenierung der SALOME von Richard Strauss, in der besonders deutlich deutlich wird, daß die Vorlage von Oscar Wilde stammt und sich die Handlung der Oper in Teilen im Leben der Regisseurin (Amanda Seyfried) wiederholt, nicht im Wettbewerb läuft.
Nach zwanzig Wettbewerbsfilmen hat sich auch die eigene Optik verschoben. Ganz abgesehen davon, daß es ungerecht, wenngleich menschlich ist, daß sich die Filme am Anfang dezent aus der Erinnerung schleichen, einfach die kürzlichen Eindrücke ohne die Reflexion dessen, was einem sein Gedächtnis erzählt, stärker sind, werden auch anfängliche Favoriten durch andere ersetzt. So geht es mir am meisten mit KEYKE MAHBOOBE MAN, My favourite Cake der beiden iranischen Regisseure Maryam Moghaddam & Behtash Saneeha, denen die iranischen Despoten die Reise nach Berlin verboten hatten. Ein wunderbarer poetischer Film über das Altwerden, ach was, das Altsein und die Möglichkeiten, die dennoch für alleinlebende Männer und Frauen bestehen, wenn man sich nur auf den Weg macht. Ein auch komischer Film mit exzellenten Darstellern, die Frau Lily Farhadpour ist auch für den Darstellerpreis gut.
Aber sind nicht auch die Frauenschicksale von Aïcha ( Salha Nasraoui) im tunesischen Film Mé el Aïn, Who Do Belong To oder die ungewöhnliche Pema (Thinley Lhamo) in SHAMBHALA preiswürdig, wobei wir von den schauspielerischen Leistungen von Hilde (Liv Lisa Fries) in IN LIEBE, EURE HILDE oder Lissy (Corinna Harfouch) in STERBEN und vor allem von Anja Plaschg in DES TEUFELS BAD noch gar nicht gesprochen haben, die alle drei preiswürdig sind, wie überhaupt die deutschen Filme sich auch im Wettbewerb um den besten Film empfehlen. Daß zwei davon historisch sind, einer zeitnah, der andere um 1750, ist kulturgeschichtlich interessant, weil es beide Male um gesellschaftliche Phänomene geht, die sich einmal in fast gleicher Weise (Neo-Faschismus) und ein andermal in abgewandelter Form (Identitätsdebatte) heute wiederholen.
Nein, Sidse Babett Knudsen, seit der TV-Serie BORGEN ein bekanntes Gesicht, hat den Darstellerpreis für ihre Rolle als Gefängniswärterin in VOGTER nicht verdient. Sie verkörpert diese sehr gut, aber diese Rolle ist so auf ihr Spielen angelegt, extreme Gefühle, Haß und Reue, daß der schauspielerische Mehrwert gar nicht eintreten kann, im Gegensatz zu Rollen, wo allein das Heben der Augenbraue schon die ganze Welt bedeutet. Das gilt auch für Isabelle Huppert in YEOHAENGJAUI PILYO, eine wunderliche Geschichte in Südkorea, nett, aber einfach zu schlicht für einen Darstellerpreis. Das gilt auch für Nina Hoß, die in „Langue Étrangère" eine Mutter spielt, wie immer sehr gut, aber…
Wir sprachen noch nicht von Nina Mélo in BLACK TEA, wo sie die Afrikanerin spielt, die bei der Hochzeit NEIN sagt und dann in China ihre Liebe findet. Eindrucksvoll. Auch Bérénice Bejo, seit dem Stummfilm ARTIST unvergessen, spielt hervorragend, aber die Rollen geben oft nicht mehr her. Dabei bewegen wir uns jetzt zwischen den Preisen. Denn die dumme, ja törichte Entscheidung der fünfjährigen BERLINALE-Leitung Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, nicht mehr männliche und weibliche Haupt- und Nebenrollen auszuzeichnen, sondern nur einen Bären für eine Hauptrolle und einen für eine Nebenrolle verringert die Möglichkeiten, zeigt aber auf, daß für die letztgenannten Schauspielerinnen durchaus Möglichkeiten für eine Nebenrolle bestehen, es sei denn, die Männer und die Frauen werden über die Hintertür doch wieder reingelassen, in dem die Jury – auch wenn es unbewußt wäre – den Hauptrollenpreis weiblich verteilt und den Nebenrollenpreis männlich.
Mutig wäre die Jury, wenn sie beide Preise Schauspielerinnen zukommen läßt – und gerecht auch. Das war auf jeden Fall die BERLINALE DER STARKEN FRAUEN, eben nicht nur der Frauen, sondern von Frauen auf der Leinwand, die die Welt veränderten, auch wenn es nicht immer wie Widerstandskämpferin HILDE zum Guten geschah. Das Verbrechen der jungen Frau in DES TEUFELS BAD ist auch deshalb monströs, weil Mord an Kindern eigentlich tabu ist. Auch im Film. Da wird eine Grenze des Zumutbaren überschritten. Das fühlt man auch. Selbst im Kinosaal, wo das Mitleid mit dieser Frau lange überwog, schlug das Pendel mit dem Knabenmord in die andere Richtung.
Aber, wenn die Jury mal witzig wäre, dann würde sie den Darstellerpreis, ob für Hauptrolle oder Nebenrolle, den köstlichen Weibern, nein, eigentlich sind es wirklich Mädchen, von GLORIA geben. Fünf auf einen Streich, das wär doch was.
Genug, genug. Den Bären für eines der Gewerke kann auch in unterschiedliche Richtungen gehen. Es gab passende und herrlich unpassende Musik. Das ist ja die Frage, was Filmmusik soll. Mal unterstützt sie die Handlung wie in ARCHITECTON, wenn die Steinlawine ein purzelndes Echo in der Musik findet, mal wird es zum Gegenteil. Doch eigentlich war es bei dieser BERLINALE nicht die Musik, die staunen ließ, sondern die Kameraarbeit. Da könnte man jetzt so viele Film nennen,
Und der beste Film? Der Goldene Bär? Wenn noch nicht mal ich mich eindeutig entscheiden kann, weil ich einige Filme sehr gut fand, wie kann es die Jury. Ganz einfach. Die diskutieren miteinander und ich nur mit mir. Im Miteinander gibt es verschiedene Vorschläge und dafür finden sich Mehrheiten oder eben nicht. Und auf diese Weise wird es einen Sieger geben, den ich gerne kommentiere. Denn ich kann nur mit mir selber diskutieren, da ist es mit den Mehrheiten schlecht bestellt. Aber bei ARCHITECTON, LA COCINA, GLORIA, IN LIEBE, EURE HILDE, PEPE, KEYKE MAHBOOBE MAN, DES TEUELS BAD, STERBEN und dem nepalesissche sowie dem tunesische Film könnte ich den GOLDENEN BÄREN verstehen.
Warten wir es also ab bis 18.30 im 3SAT, da wird die Bärenvergabe übertragen und anschließend noch diskutiert. Sie lesen dann morgen unsere Kommentare dazu.
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