Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 30. Mai 2024, Teil 9
Todd Haynes
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – MAY DECEMBER erforscht eine der großen „Begabungen“ der menschlichen Spezies: Die kolossale Verweigerung, uns selbst wirklich zu erkennen!
Eine Schauspielerin fährt nach Savannah, Georgia, um das Leben einer Familie zu studieren, die Gegenstand eines öffentlichen Skandals und nationales Medienereignis war. Weil ein Film über diese Familie entstehen soll, möchte die Schauspielerin das Leben, das die Familie seither geführt hat, aber insbesondere die Mutter der Familie beleuchten, die im Mittelpunkt des Skandals stand und die sie darstellen wird. Es ist ein heikler Prozess der erzählerischen Erkundung. Denn im Verlauf erfahren auch die Frau und ihr junger Ehemann, ein koreanischer Amerikaner, mit dem sie ihre Affäre begann, als er 13 Jahre alt war, mehr über sich selbst und ihre Vergangenheit. Jeder Lebenslauf und jede Familie sind nun einmal das Ergebnis von Entscheidungen, und es ist gefährlich, diese im Nachhinein überprüfen zu wollen. Und man kann sich kaum brisantere romantische Entscheidungen vorstellen als die von Gracie und Joe, deren Geschichte verfilmt werden soll. Dies gilt umso mehr, als sie seitdem mit der einhelligen Verachtung und Verurteilung durch die Außenwelt umgehen mussten und sich nun in den letzten Tagen vor dem Highschool Abschluss ihrer noch zu Hause wohnenden zwei Kinder befinden.
Während Elizabeth Gracie und ihre Welt genau beobachtet und auch deren Mann Joe kennenlernt, gerät ihre Zuverlässigkeit als Erzählerin ins Wanken. Elizabeths eigene Ambitionen und Vermutungen trüben ihre Bemühungen um ein ehrliches Porträt. Während Joe mehr und mehr in den Fokus rückt, tauchen – auch für den Zuschauer - mehr Ähnlichkeiten zwischen Elizabeth und Gracie auf, als beide gegenseitig erkennen. Durch diese leise Verschiebung der Perspektive bewegt sich der Film vom Einzel- zum Doppel- zum Dreifachporträt.
Das bemerkenswerte Drehbuch und die Hauptdarsteller - unter anderem Cory Michael Smith, Elizabeth Yu, Gabriel Chung und Piper Curda - sowie all die Schönheit und Nuancen, die meine kreativen Partner beigesteuert haben, haben das hergestellt, was meiner Meinung nach im Kino immer noch möglich ist: Identifikation an den unwahrscheinlichsten Stellen zu finden und von einer Geschichte und ihren Figuren gefesselt und überrascht zu werden, ohne jemals ganz sicher zu sein, wer Recht oder Unrecht hat.
Foto:
©Verleih
Info:
Regie Todd Haynes
Drehbuch. Samy Burch
mit
Natalie Portman, Julianne Moore, Charles Melton, Cory Michael Smith,
Elizabeth Yu, Gabriel Chung, Piper Curda, D.W Moffett, Lawrence Arancio
Abdruck aus dem Presseheft
