verleihSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 6. Juni 2024, Teil 6

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) - Wie ist die Idee entstanden, einen Film über den Internationalen Strafgerichtshof zu machen und warum über einen solch langen Zeitraum?

Marcus Vetter:
In 2009 haben wir den Film „Das Herz von Jenin“ fertiggestellt – ein Film über einen Palästinensischen Vater, dessen Sohn von Israelischen Soldaten erschossen wurde und der sich dennoch entscheidet die Organe seines Sohnes an israelische Kinder zu spenden. Der Chefankläger Luis Moreno Ocampo von Den Haag hat damals im Rahmen der „Cinema for Peace-Gala“ in Berlin den Film gesehen. Wir waren gerade mitten drin ein Kino in Jenin/Palästina zu renovieren und wir drehten einen Film über Yael Armanet, eine Israelin, die ihren Mann bei einem Selbstmordattentat in Haifa verlor und später nach Jenin fährt, um Antworten auf den Tod ihres Mannes zu finden. Drei Filme, drei Geschichten über Menschen, die versuchen, den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen. Darum ging es bei der Veranstaltung in Berlin. Am nächsten Tag lud mich Luis Moreno Ocampo zu sich ins Büro ein und fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, einen Film über den Internationalen Strafgerichtshof zu drehen. Er sagte, dass der ICC gerade prüft, inwieweit Israel und die Hamas wegen Kriegsverbrechen im Gazakrieg 2009 belangt werden könnten. Es war ein sehr verlockendes Angebot und ich sagte ihm, dass ich es mir sehr gut vorstellen könnte, jedoch nur unter einer Bedingung: dass er uns vertraut und wir auch hinter normalerweise verschlossenen Türen drehen können.Angesichts der schrecklichen Ereignisse, die am 07.Oktober 2023 In Israel begannen, schließt sich heute der Kreis auf traurigste Weise. Palästina wurde auf Intervention von Luis MorenoOcampo in 2012 von den Vereinten Nationen als anerkannt und ist seit 2015 offizieller ICC-Mitgliedstaat.

Damit ist der ICC zuständig, wenn auf palästinensischem Territorium Kriegsverbrechen, Genozid oder Verbrechen an der Menschlichkeit verübt werden, das gilt für alle Kriegsparteien, für Israel wie auch für die Hamas. In einem gewissen Sinne ist WAR AND JUSTICE der vierte Teil unserer Palästina/Israel Trilogie: DAS HERZ VON JENIN CINEMA JENIN - DIE GESCHICHTE EINES TRAUMS AFTER THE SILENCE , die wir jetzt zeitgleich angesichts der traurigen Ereignisse nochmal herausbringen..
Denn auch hier versuchen Menschen über ein globales Gericht, das die Auftraggeber von Kriegsverbrechen oder Genozid persönlich verantwortlich machen will, den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen. Es geht um Gerechtigkeit statt Krieg. Denn Krieg zieht Rache nach sich, Gerechtigkeit meist nicht. Die Idee dahinter ist, sich immer auf die Seite der Opfer zu schlagen, egal welche Argumente dagegensprechen könnten.


43 Staaten haben in 2023 einen Antrag eingebracht, dass der ICC wegen möglicher Kriegsverbrechen auf russischer Seite ermittelt. Karim Khan hat kurze Zeit später einen Haftbefehl gegen Präsident Putin erlassen. Wie verhält sich der ICC jetzt im Israel/Palästina Konflikt?

Marcus Vetter:
Der jetzige Chefankläger Karim Ahmad Khan konnte im Ukraine-Krieg ermitteln, jedoch nur bei Kriegsverbrechen oder Genozid, nicht beim Urverbrechen, dem Angriffskrieg. Denn Russland hat den ICC nie anerkannt hat. Und für Kriegsverbrechen und Genozid gilt, dass nur der Staat, auf dessen Staatsgebiet das Verbrechen begangen wurde, den ICC anerkannt haben muss, damit das Gericht tätig werden kann. Beim Verbrechen des Angriffskriegs jedoch müssen beide Staaten die Rom Statuten ratifiziert haben, der angreifende wie auch der Angriffen Staat. Deshalb kam Wolodymyr Selenskyj im Sommer 2023 extra nach Den Haag, um für ein Sondertribunal zu werben, weil der ICC für Putins Angriffskrieg nicht zuständig ist. Ocampo fordert deshalb die Mitgliedstaaten auf, die Regeln zu ändern und will
sich vor allem dafür stark machen, dass Angriffskriege an sich als Kriegsverbrechen eingestuft werden.


Im Fall Israel/Palästina wartet die Welt jetzt gespannt, wie sich der ICC verhalten wird. Das ist natürlich ein Politikum und es wird alles andere als einfach für den jetzigen Chefankläger Karim Khan. Wie haben Sie denn die Dreharbeiten in 2023 mit den Geschichten verbunden, die sie bereits gedreht haben?

Marcus Vetter:
Auf der heutigen Zeitebene bereitet sich Ocampo auf eine Rede vor, die er in Nürnberg vor wichtigen Funktionären des ICC im Oktober 2023 gehalten hat. In dieser Rede geht es zum einen um den Ukraine-Krieg, zum anderen aber auch um einen Rückblick auf die Arbeit des ICC, und wie er als erster Chefankläger das Gericht aufgebaut hat. Für uns ergibt sich dadurch eine wunderbare Möglichkeit unser Material aus den ersten Jahren des ICC mit der heutigen Sicht zu verbinden. Mit der Zuspitzung der Situation in Russland versteht man als Zuschauer plötzlich welchen Widerständen der ICC ausgesetzt ist, da die mächtigen Staaten wie Russland, China und die USA das Gericht ja nie anerkannt haben. Jetzt wollen ja die Menschen, dass der ICC bezüglich russischer Kriegsverbrechen tätig wird, und sie müssen sich plötzlich mit den Statuten und dem inneren Regelwerk des Gerichts auseinandersetzten. In diesem Zusammenhang bekommen die Fälle der ersten Jahre eine neue Bedeutung. Ocampo’s Rückblick auf seine Arbeit gibt uns die Möglichkeit den Film damit zu strukturieren.

Damals brach während der Dreharbeiten z.B. die Revolution in Libyen aus, die von Gaddafi niedergeschlagen wurde. Wir drehten als der UN-Sicherheitsrat den Libyen-Fall an den Internationalen Strafgerichtshof überwies, im Konsens, wohlgemerkt, USA, China, Russland, Indien, haben alle dafür gestimmt. Denn wenn ein Land wie z.B. Gaddafis Libyen das Gericht in Den Haag nicht anerkannt hat, konnte der ICC nur tätig werden, wenn der UNSicherheitsrat einstimmig den Fall an den ICC überträgt. Doch trotz einer einstimmigen Entscheidung, der Krieg gegen Libyen hat das Land ins Chaos gestürzt. Im Film sagt Ocampo, dass Krieg, auch wenn mit guten Intentionen geführt, immer Unschuldige trifft. Dies war der Fall in Libyen, wie auch im Irak-Krieg 2003, der unter falschen Voraussetzungen geführt wurde und damit eigentlich als Angriffskrieg eingestuft werden könnte.


Welche Fälle haben Sie noch begleitet?

Marcus Vetter:
Kriegsverbrechen bzgl. Kindersoldaten im Kongo. Wir hatten exklusiven Zugang zu tausenden Stunden Gerichtsmaterial. Es war der erste Fall des ICC der in Den Haag verhandelt wurde. Thomas Lubanga Dyilo, ein kongolesischen Warlord der HemaVolksgruppe, hat Kindersoldaten rekrutiert um die Lendus zu töten. Der Film verfolgt den Fall bis zur Urteilsverkündung im Jahr 2012.


Im Film kommen auch Angelina Jolie und der ehemalige Chefankläger Benjamin Ferenzc der Nürnberger Prozesse vor. Warum?

Marcus Vetter:
Luis Moreno-Ocampo war nicht nur der erste Chefankläger des ICC, sondern auch eine Art Showmaster. Er musste die junge Institution, als sie 2002 ins Leben gerufen wurde, erst in der Welt bekannt machen. Und als im Fall Thomas Lubanga Dyilo die Schlussanträge gestellt wurden, hatte er die Idee, Ben Ferencz, den Chefankläger der Nürnberger Prozesse, ins Team zu holen. Er wollte, dass er dem Gericht die Relevanz dieses ersten Falles Nahe bringt und so eine Brücke von Nürnberg nach Den Haag schlägt. Angelina Jolie wiederum hat selbst einen Film über Kriegsverbrechen im Jugoslawienkrieg gedreht und setze sich deshalb für den ICC ein. Sie ist zwei Mal extra nach Den Haag gereist, um den Chefankläger zu unterstützen.

Wichtig ist hier auch zu erwähnen, dass Ben Ferencz, der im April 2023 mit 103 Jahren starb, sein Leben dem Thema Krieg und Kriegsverbrechen gewidmet hat. Er sagt, dass der Krieg an sich ein Kriegsverbrechen ist, weil es keinen Krieg gibt, indem nicht Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung verübt werden.
Das ist ein sehr spannendes Thema, vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen Kriege und der gesellschaftlichen Diskussion und dem Umgang damit. Deshalb, der Film könnte nicht aktueller sein. Jetzt ist der richtige Moment den Film in seiner Vollendung herauszubringen.


Eine letzte Frage, welche „Message“ wollt ihr dem Film mit auf den Weg geben?

Marcus Vetter:
Dies ist ein Dokumentarfilm, der sich auf keine Seite schlagen darf. Alle Kriege führen zu Kriegsverbrechen, wie Ben Ferencz erklärt. Deshalb werben Karim Khan und Ocampo bei der Weltgemeinschaft dafür, diese Situation, in der Putin einen Angriffskrieg auf die offensichtlichste Weise begonnen hat, als Chance zu nehmen, und die Regeln innerhalb der Romstatuten zu ändern und Staatschefs, die Angriffskriege beginnen, grundsätzlich zur Verantwortung zu ziehen. Dazu müssen aber zuerst einmal alle Länder - auch die Mächtigen - ein solches Gericht akzeptieren und Aggressionskriege müssen als Kriegsverbrechen an sich betrachtet werden, wie es Ben Ferenz' Position ist. Und hier ist es natürlich auch wichtig, die Doppelmoral aufzuzeigen und daran zu erinnern, dass Kriege, auch von den USA, nicht nur zu Verteidigungszwecken geführt wurden. Obama hat dies sogar in seiner Rede für den Nobelpreis gesagt, dass Kriege unter Umständen für humanitäre Zwecke geführt werden können. Wenn wir in dem Film auch zeigen werden, dass die moralischen Voraussetzungen für den Irakkrieg, Saddam Husseins Nukleararsenal, nie gefunden wurden, geht es dabei nicht darum, eine Situation mit einer anderen zu vergleichen, sondern aufzuzeigen, warum Kriege bisher leider nicht durch eine gerechte Justiz ersetzt werden konnten.

Es gibt eine Szene, die wir in 2011 gedreht haben, in der Amr Moussa, der ehemalige Generalsekretär der Arischen Liga, Ocampo sagt, dass der ICC erst dann internationale Anerkennung erfahren wird, wenn auch 'Uncle Sam’, die USA also, zur Rechenschaft gezogen werden können oder Verbündete von ihnen und somit die Weltgemeinschaft sieht, dass der ICC wirklich unabhängig agiert und nicht politisch instrumentalisiert ist. Diese Szene ist so wichtig, weil sie zeigt, wie ein Teil der Weltgemeinschaft denkt. Nur wenn alle Länder hinter einer Institution wie dem ICC stehen, kann der Traum, von dem Ben spricht, Kriege durch eine gerechte Justiz zu ersetzen, Wirklichkeit werden. Ein globales Gericht kann nur dann funktionieren, wenn es von allen Ländern als „gerecht“ und unabhängig wahrgenommen
wird. Der Israel/Palästina Konflikt ist hier vielleicht der Lackmustest. Die Welt schaut mit Horror auf Israel/Palästina und was dort passiert.


Fotos:
©Verleih

Info:
WAR and JUSTICE
Ein Film von Marcus Vetter und Michele Gentile
Gewidmet Ben Ferencz, dem jüngsten Chefankläger bei den Nürnberger
Prozessen, der sein Leben lang dafür kämpfte, Krieg durch Gerechtigkeit zu ersetzen.
„Das größte Kriegsverbrechen ist der Krieg selbst.“
(Ben Ferencz)
Abdruck aus dem Presseheft