Bildschirmfoto 2024 09 20 um 08.03.36Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 19. September 2024, Teil 6

Karin Schiefer im Gespräch mit Ruth Beckermann

Wien (Weltexpresso) - Favoriten ist Wiens zehnter Gemeindebezirk – der bevölkerungsreichste Bezirk der Hauptstadt, wo für ca. 40% der dort lebenden Menschen Deutsch nicht die Muttersprache ist. Ruth Beckermann hat dort über drei Jahre hinweg den mal heiteren, mal sehr fordernden Alltag einer Volksschulklasse mit ihrer hochengagierten Lehrerin begleitet. FAVORITEN ist ein brisanter Denkanstoß zur gesellschaftlichen Relevanz der Grundschulbildung für das Zusammenleben und den Zusammenhalt in einer großen Stadt.

Die Dreharbeiten zu FAVORITEN haben im Herbst 2020 begonnen. Zu diesem Zeitpunkt lag ein halbes Jahr Pandemie hinter uns, somit auch eine Zeit, wo sich das Unterrichten der schulpflichtigen Kinder nach Hause verlagert hatte. Eine neue Ungleichheit in der Bildung hatte sich aufgetan. War dies für Sie ein erster Anlass, sich für die öffentliche Volksschule zu interessieren?

Ruth Beckermann: Nein. Mein Anstoß war der, dass ich einen Film über eine Volksschulklasse machen wollte. Eine Idee, die ich schon lange vor der Pandemie mit mir herumgetragen hatte. Es sollte eine Langzeitstudie werden, um die Entwicklung der Kinder über die gesamte Volksschulzeit beobachten zu können


Wofür steht die öffentliche Volksschule grundsätzlich für Sie? Sehen Sie darin das Sprungbrett in die Chancengleichheit?

Ruth Beckermann: Ich denke, Kindergarten und Volksschule bilden eine unglaublich wichtige Grundlage. Ich habe immer die Auffassung vertreten, dass alles, was man bis zum sechsten Lebensjahr in ein Kind “hineinstopfen” kann, funktioniert, weil die Kinder schon ab drei Jahren unheimlich aufnahmebereit sind. In manchen Ländern gehen die Kinder auch schon ab drei, vier Jahren in die Vorschule. Das gibt es bei uns nicht. Die Volksschule, wie sie in Österreich noch immer heißt, ist sehr, sehr wichtig und wird hierzulande sehr vernachlässigt. Kinder sind sehr wach.

Es tut einem das Herz weh, wenn man zuschauen muss, welche Chancen da vergeben werden. Kinder könnten anders gefördert werden wie z.B. in England, wo die Kinder mit dreieinhalb, vier in die Vorschule gehen und alle lesen können, wenn sie mit sechs in die Schule eintreten und die Sprache gut können. Die deutsche Sprache müsste ein so selbsverständliches Werkzeug sein wie unsere Hände.


Warum haben Sie sich entschieden, in Wiens größter Volksschule zu drehen?

Ruth Beckermann: Wir haben uns mehrere Volksschulen in verschiedenen Bezirken in Wien angeschaut und uns natürlich für Schulen interessiert, wo das Publikum eher gemischt ist. In dieser Schule in Favoriten, wo wir letztlich gedreht haben, wurden wir vom Direktor sehr freundlich empfangen, da war mir noch gar nicht bewusst, dass es die größte Wiener Volksschule war. Für so ein Projekt ist es sehr wichtig, in einer Schule zu arbeiten, in der man willkommen ist. Ich hielt diese Schule vor allem deshalb für sehr interessant, weil sie fast ausschließlich von Kindern mit Migrationshintergrund besucht wird. Kein Elternteil der Kinder spricht perfekt Deutsch. Das ist der Punkt, um den es eigentlich geht. Wir haben uns an dieser Schule einige Lehrer:innen angeschaut, drei waren in der näheren Auswahl, ein Lehrer hatte eine Integrationsklasse, was unseren Zugang noch um den Aspekt Behinderung erweitert hätte. Das wären zu viele Themen gewesen. Als wir einige Stunden den Unterricht verfolgt hatten, habe ich mich für Ilkay Idiskut entschieden, weil sie eine dynamische, engagierte Lehrerin ist.


Ist Ihre Wahl auch deshalb auf Ilkay gefallen, weil es sich um eine junge Lehrerin handelt, die in Wien aufgewachsen ist, aus einer türkischen Familie stammt und für eine gelungene Integration steht und damit auch ein Modell für viele ihrer Schüler:innen sein kann?

Ruth Beckermann: Ilkay ist in Wien geboren, sie ist in einem Innenstadt-Bezirk aufgewachsen und war die einzige Schülerin mit Migrationshintergrund in ihrer Klasse. Sie hat natürlich sofort sehr gut Deutsch gelernt, was die Grundvoraussetzung für ein integriertes Leben in Wien und v. a. auch für eine gute Ausbildung und jedwede Karriere ist. Sie versucht, den Kindern in dieser Klasse einerseits eine gute Ausbildung zu geben, andererseits kennt sie die verschiedenen Milieus, aus denen die Kinder kommen, ziemlich gut. Sie kann mit den Müttern der türkischen Kinder auf Türkisch sprechen. Sie ist per Whatsapp zu fast jeder Tages- und Nachtzeit mit den Eltern in Kontakt ist. Was sie leistet, ist sehr viel mehr als Kinder zu unterrichten.


Man kennt Filme über Volksschulklassen, die eine außerordentliche Lehrerpersönlichkeit in den Fokus setzen. Oft stehen sie kurz vor der Pensionierung oder die Schule kurz vor der Schließung. Sie haben ebenfalls eine hervorragende Lehrerin als Protagonistin, Ihr Fokus gilt aber eindeutig der Klasse und dem Alltag in einer Volksschulklasse in einer europäischen Großstadt?

Ruth Beckermann: Unsere Lehrerin ist ein Beispiel, wie dieser Alltag ausschauen könnte. Sie ist quasi die nächste Generation, die Realität in meinem Film ist eine heutige. Mich interessiert vor allem die Zukunft. Diese Kinder sind die Zukunft unserer Gesellschaft. Ilkays Klasse steht für viele Volksschulklassen in Wien oder in Berlin.

All das, was sie gemeinsam in der Klasse besprechen, gilt auch für die Probleme in unserer Gesellschaft. Das Tolle an der Lehrerin ist, dass sie sich auf diese Diskussionen einlässt. Sie blockt nichts ab, sondern lässt sich auf Debatten ein. Sie hat auch keine Angst, die Kinder zu berühren. Sie ist wirklich ungewöhnlich. Die Diskussionen in der Klasse sind unglaublich spannend. Da geht es um Fragen wie: Dürfen Mädchen schwimmen gehen? Dürfen Mädchen… Frauen einen Bikini anziehen? Es geht um Flüchtlingsfragen, es geht um den Ukraine-Krieg. Kinder sind sehr wache und offene Menschen, manchmal ist es ein bisschen verdreht, was sie sich da zusammenreimen, aber sie kriegen sehr viel mit. Ilkay reagiert auch stark mit ihrer Meinung, wenn ein Kind sagt: „Ein Christ soll eigentlich nicht in eine Moschee beten kommen“, dann reagiert sie drauf und fragt nach: „Warum sagst du das? Bist du der Chef der Moschee?“ Sie lässt sich auch auf Konflikte mit den Kindern ein und bewahrt doch immer vollen Respekt für sie. Was uns an dieser Klasse besonders aufgefallen ist, war die hohe soziale Kompetenz der Kinder. Natürlich gibt es Wickel, die gibt es in jeder Klasse, aber wir hatten den Eindruck – wir hatten ja auch alle Eltern kennengelernt und immer wieder gettroffen – , dass sich die Eltern zum Großteil sehr um die Kinder kümmern und das Beste für ihr Kind wollen. Das Beste heißt oft Konsum und materielle Güter. Es gibt andere Werte als bei Bildungsbürgern. Das, was sie können, leisten die Eltern. Aber das, was sie nicht leisten können, da müssten die Schulen bzw. die Gemeinden Hilfestellung leisten mit entsprechenden Angeboten. Das fehlt total. Diese Lehrerin gleicht aus, wo das Schulsystem versagt. Das ist für mich bei dieser Arbeit rausgekommen. Wir waren oft so entsetzt, dass sie alleine ohne Assistenz in der Klasse steht. Dass es in einer Ganztagsschule kaum Deutschförderunterricht gibt. Dass es an der größten Volksschule von Wien kein permanentes Angebot an Sozialarbeiter:innen oder Schulpsycholog:innen gibt.
Forstsetzung folgt


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Info:

Stab:
Regie: Ruth Beckermann
Buch: Ruth Beckermann & Elisabeth Menasse

mit 
Nerjiss Aldebi
Liemar Aljouma
Egemen Ak,
Majeda Alshammaa
Enes Kerim Bölüktaş
Melisa Bulduk
Furkan Çongar
Dani Crnkić
Eda Dzhemal
Beid Emini
Arian Grošić
Elif Gürdal
Rebeca Harambaşa
Ibrahim Ibrahimovič
Alper Ismetov
Davut Kaplan
Manessa Lakhal

und Ilkay Idiskut als Lehrerin 

Abdruck aus dem Presseheft
Interview: Karin Schiefer / AUSTRIAN FILMS Januar 2024