Bildschirmfoto 2024 09 20 um 08.03.16Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 19. September 2024, Teil 7

Karin Schiefer im Gespräch mit Ruth Beckermann

Wien (Weltexpresso) - Wofür haben Sie sich in einer ersten Drehphase interessiert? Wie unter diesen schwierigen sprachlichen Voraussetzungen das Basiswissen für die fortführende Schulbildung vermittelt wird? Oder vielmehr die sozialen Beziehungen? In welche Richtung hat Sie Ihre Neugier gelenkt?

Ruth Beckermann: Mir ging es vor allem um die Persönlichkeiten der Kinder. Natürlich kann man in einer Klasse mit 25 Kindern nicht alle portraitieren, aber ich denke, es ist uns bei fünf, sechs Kindern gelungen, dass sie als Personen rauskommen. Es ging uns vor allem um die Themen, die die Kinder interessieren. Ein bisschen muss man mitbekommen, was sie lernen. Wir haben am Anfang viel Unterricht gedreht, aber Unterricht kennen wir alle. Wir haben ihn nur andeutungsweise im Film. Zuviel Unterricht ist unerträglich. Es war schon ziemlich anstrengend, da drinnen zu sitzen. Man kommt sich als Erwachsene ja sofort wieder wie in der Schule vor. Oft dachte ich schon um neun Uhr, es ist Mittag und habe mich gefragt, wie ich das je ausgehalten habe und wie diese Kinder das aushalten. An manchen Tagen hatten sie erst um 14 Uhr Mittagessen. Turnen haben sie ein- oder zweimal in der Woche. Wie kann man so viele Stunden in diesem Raum hocken?

Es war so, dass sowohl ich als auch Elisabeth Menasse, meine Ko-Autorin, in einer Ecke gesessen sind, weil der Kameramann Johannes Hammel und der Tonmann Andreas Hamza sich in der Klasse bewegt haben. D.h. die haben schon „gestört“ und ich konnte nicht auch noch neben dem Kameramann sein, was ja normalerweise mein Kontakt ist. Ich konnte nicht viel ins Geschehen eingreifen. Nach ein, zwei Wochen erster Erfahrungen haben wir mit Johannes den Stil des Films abgesprochen. Unsere Idee war, möglichst nahe an den Kindern dran zu sein. Er musste sich zwischen den Sitzreihen bewegen, um diese, wie ich finde, sehr gut gelungenen Aufnahmen, die vielen Close-ups, die er alle mit Handkamera aufgenommen hat, zu schaffen.



Wie lange hat es gedauert, bis die Kinder die Kamera nicht mehr wahrgenommen haben?

 Ruth Beckermann: Ich würde sagen, das war nach einem Tag erledigt. Am Anfang interessieren sich die Kinder vor allem für das Mikrofon an der Angel. Kamera kannten sie ja. Aber dieses Pelztier da oben, das hat alle interessiert. Andreas hat ihnen allen auch genau erklärt, wie das mit dem Ton funktioniert. Die Kinder haben uns sehr schnell vergessen wie auch gemocht. Sie waren sehr froh, wenn wir gekommen sind, das war etwas Besonderes. Das Tolle an Ilkay war auch, dass sie sehr schnell kapiert hat, wie wir arbeiten und mitgearbeitet hat. Es war sehr hilfreich, dass auch sie Lust auf diesen Film hatte. Wir haben immer in Blöcken von drei Tagen hintereinander gedreht. Der erste Tag war meist etwas mühsam, dann ist es immer besser geworden. Dazwischen ließen wir immer ein paar Wochen Pause.


Sie geben den Kindern eine (Handy)-Kamera in die Hand, um Bilder für den Film zu schaffen. War dies auch ein wichtiger Versuch, auf diese Weise mit ihnen in Dialog zu treten?

Ruth Beckermann: Weil ich als Regisseurin beim Dreh so untätig war, musste ich mir etwas einfallen lassen. Ich wollte die Kinder nicht interviewen, aber dennoch etwas anderes von ihnen hören als das, was sie in der Gruppe von sich gaben. Außerdem wollte ich wissen, wie die Kinder den Umgang mit der Kamera und das Einander-Interviewen per se angehen. Interessant war das Mädchen Melisa, die wir in einer großen Not beim Rechnen erleben, die aber wirklich Lust am Filmen hatte. 

Sie hat mit unserem kleinen Stativ ihre ganz eigene Methode gefunden. Manche Kinder haben auch zu Hause gefilmt und ihre Familie gezeigt.

Diese Bilder haben wir dann nicht verwendet, es wäre mir voyeuristisch vorgekommen. Ich liebe die Einstellungen, wo die Mädchen übers Heiraten reden. Da kommen so unerwartete Sachen raus. Und man sieht ja schon am Anfang, wenn die Kinder über die Berufe ihrer Eltern reden, dass diese Eltern die Systemerhalter in der Stadt sind: Vom Bauarbeiter über Pizzabäcker und Putzfrauen in Spitälern bis zu Krankenschwestern sind das die Menschen, die hier die Arbeit machen. Viele haben nicht einmal die österreichische Staatsbürgerschaft und können nicht wählen gehen. Das sollte man auch einmal bedenken, wenn man sich den Film anschaut.


Österreichische Schule geht nicht ohne Religionsunterricht. Wie haben Sie dazu Ihren Zugang gefunden?

Ruth Beckermann: Wir haben in Österreich das Konkordat, daher muss Religion in der Schule unterrichtet werden und diese Realität wollte ich auch zeigen. Das Interessante für uns war, dass es in der Klasse kein einziges katholisches Kind gab und dass alle Kinder aus Ex-Jugoslawien vom Religionsunterricht abgemeldet waren, während fast alle muslimischen Kinder den Religionsunterricht in der Schule besuchen. Wir waren öfter beim muslimischen Religionsunterricht, der zweimal die Woche stattfindet, dabei und haben bemerkt, wie die Kinder da aufblühen. Da sind sie in ihrer Welt. Da kennen sie sich gut aus und das haben sie gern. Doch religionsübergreifenden Unterricht oder Ethikunterricht hielte ich für sinnvoller und integrierender.

Sie haben die Klasse drei Schuljahre lang begleitet. Wie haben Sie es geschafft, letzten Endes auf eine Filmfassung von unter zwei Stunden zu kommen? 

Ruth Beckermann: Wir haben sehr viel gedreht, obwohl ich grundsätzlich eigentlich versuche, ökonomisch zu drehen. Man weiß halt in einer Schulklasse nie, wer etwas sagen wird und wann etwas Interessantes passiert. Johannes hat wirklich anstrengende und gute Arbeit geleistet. Ich habe dann mit dem Editor Dieter Pichler viel Zeit im Schneideraum verbracht. Was bei der Reduzierung des Materials geholfen hat, waren Sichtungen, die Elisabeth und ich mit Dieter zwischen den Drehblöcken hatten. Eigentlich waren wir mit unserer Dreieinhalbstunden-Fassung schon sehr zufrieden, haben den Film jedoch immer wieder liegen lassen, verdichtet und verdichtet.

Rausgefallen sind Meta-Gespräche wie das zwischen den Elternvertretern und dem zwischen Ilkay und dem Direktor, das wir sehr lange drinnen hatten. Irgendwann dachte ich mir, wenn man nicht über den Film versteht, woran es in diesem Schulsystem mangelt, dann funktioniert der Film nicht. Ich wollte eine Konzentration auf das Geschehen in der Klasse und auf die Aufnahmen, die die Kinder mit den Handys voneinander gemacht haben.

Ruth Beckermann: Ich habe das Buch gemeinsam mit Elisabeth Menasse geschrieben, die als ehemalige Direktorin des Wiener Zoom-Kindermuseums viel mit Kindern und Schule zu tun gehabt hat und die einen ganz anderen Blick darauf hatte als ich. Elisabeth hat auch Regieassistenz gemacht und wir waren bei den Drehs immer zu viert in der Schule. Es war nicht nur eine schöne Zusammenarbeit, es war eine meiner schönsten Arbeiten, immer wieder die Energie der Kinder zu spüren. Manchmal waren wir mit Ilkay essen und sie hat uns erzählt, wie es ihr ging. Es war alles sehr harmonisch.


Sie sprechen von einer Zeit der Heiterkeit, die Sie gemeinsam verbracht haben. Wie sieht Ihr Blick zurück auf diese Dreharbeiten aus?

Ruth Beckermann: Ich habe das Buch gemeinsam mit Elisabeth Menasse geschrieben, die als ehemalige Direktorin des Wiener Zoom-Kindermuseums viel mit Kindern und Schule zu tun gehabt hat und die einen ganz anderen Blick darauf hatte als ich. Elisabeth hat auch Regieassistenz gemacht und wir waren bei den Drehs immer zu viert in der Schule. Es war nicht nur eine schöne Zusammenarbeit, es war eine meiner schönsten Arbeiten, immer wieder die Energie der Kinder zu spüren. Manchmal waren wir mit Ilkay essen und sie hat uns erzählt, wie es ihr ging. Es war alles sehr harmonisch.


Da es in Österreich keine allgemeine Mittelschule gibt, kommt es in der 4. Volksschulklasse auch zu einem Moment der bitteren Wahrheit – die Semesternoten, die für 10-Jährige die weitere schulische Zukunft bestimmen. Es wird klar, dass trotz der guten pädagogischen Begleitung durch diese Lehrerin keine Wunder geschehen. Mit Gymnasium ging es nur für wenige weiter.


Ruth Beckermann: Es kann nicht funktionieren. Da kann die Lehrerin noch so gut sein. Die Kinder verstehen das, was sie lesen, nicht gut genug. Ich glaube, es gibt kaum ein Kind in der Klasse, dass vollkommen sattelfest bei den deutschen Artikeln ist. Sie sind in einer Klasse, wo keiner wirklich gut Deutsch spricht. Auch wenn sie sich auf Deutsch miteinander verständigen müssen, bleibt das ein sehr einfaches oder falsches Deutsch oder sie reden dann doch Türkisch oder Serbokroatisch miteinander, auch wenn sie das nicht sollen. Nach der Schule sind sie in ihren Großfamilien. Deutsch ist nur die Sprache der Schule. Es sind fünf Kinder ins Gymnasium gekommen, ob sie es schaffen, wird man sehen. Es ist nicht so, dass die Eltern das nicht wollen. Es ist alles eine Frage der Sprache. Man merkt auch, dass sich die Kinder mit Englisch viel leichter tun, weil sie auf YouTube und TikTok Englisch hören. Oft ist es so, dass nicht einmal ihre Muttersprache perfekt ist.

Es gibt Kinder, wo jeder Elternteil eine andere Sprache spricht und auch die Eltern nicht perfekt in einer Sprache miteinander kommunizieren. Wären die Klassen besser durchmischt, sagen wir die Hälfte mit Muttersprache Deutsch, dann würden die anderen das sofort lernen. Ich verstehe nicht, warum man die Klassen nicht mehr mischt. Das würde bedeuten, dass man die Kinder mit Schulbussen in einen anderen Bezirk bringen müsste. Das würde zu einem Aufstand der österreichischen Eltern führen, wenn ihre Kinder – Gott behüte – , nach Favoriten in die Volksschule gebracht würden. Es ist hier alles sehr konservativ und verkrustet.

Befremdend ist am Ende (nach dem sehr emotionalen Abschied von der Lehrerin, die in Mutterschutz geht), dass es in einer öffentlichen Volksschule der reichen Stadt Wien keine Lehrperson gibt, die diese Klasse sofort und samt einer angemessenen Übergabephase übernehmen kann.

Ruth Beckermann:
Es ist wirklich sehr im Argen. Dass hier nicht gehandelt wird, wird unserer Gesellschaft auf den Kopf fallen, weil in der Volksschule die Fundamente für die Zukunft gelegt werden. Manche Kinder sind gut in Mathematik, aber sie verstehen die Textbeispiele nicht. Wie sollen sie die richtigen Antworten finden? Jetzt sind sie noch liebe, charmante Kinder. Wenn sie in die Pubertät kommen, weiß man noch nicht, wie sie sich entwickeln werden. In den Mittelschulen sind wieder alle ohne Deutsch als Muttersprache zusammen. Favoriten ist ein total spannender Bezirk, den ich jetzt kennengelernt habe, mit so vielen Menschen aus verschiedenen Ländern mit ihren Küchen und Sprachen. Man kann dort sehr gut leben, ohne Deutsch zu können, aber man wird nicht in eine andere Gesellschaftsschicht kommen. Solche vergebenen Chancen sind eigentlich ein Verbrechen. So ein verschleudertes Potenzial. Wir brauchen ja die Arbeitskräfte auf hohem Niveau.


Haben Sie das Gefühl, dass sich gerade eine Idee vom öffentlichen Schulwesen auflöst?

Ruth Beckermann:
Das ist sehr interessant und sehr erschreckend. In meiner Generation sind ja alle in öffentliche Schulen gegangen außer ein paar, die ins Lycée Français gingen. Jetzt geht die Schere auseinander. Wer will und kann, gibt seine Kinder in teure Privatschulen oder konfessionelle Privatschulen. Dadurch gibt es immer mehr Segregation. Man weiß viel weniger voneinander. Das zeigt sich ganz deutlich. Das hat auch mit den schlechten öffentlichen Schulen zu tun. Nicht alle sind schlecht. Aber viele sind überfüllt und es herrscht ein Mangel sowohl an Lehrer:innen als auch anderen Kräften, die diese entlasten. Den Politikern ist das egal. Alle denken sich irgendwelche neuen Dinge aus. Es liegen Unmengen an Prospekten irgendwelcher Initiativen in den Schulen herum. Das kommt erstens bei den Eltern der Kinder, die Unterstützung nötig hätten, nicht an und es ist immer nur ein Schrebergarten von Leuten, die gute Ideen haben. Es ändert nichts am Grundkonzept. Das ganze Schulsystem gehört total verändert.


Ein Appell an die Bildungsverantwortlichen?

Ruth Beckermann: Sie sollen sich mal eine Woche in eine Klasse reinsetzen und nicht nur zu Besuch kommen, wenn alles geputzt ist und alle ihnen etwas vorsingen, sondern mal schauen, was wirklich los ist.


Foto.
©Verleih

Info:
Stab:
Regie: Ruth Beckermann
Buch: Ruth Beckermann & Elisabeth Menasse

mit 
Nerjiss Aldebi
Liemar Aljouma
Egemen Ak,
Majeda Alshammaa
Enes Kerim Bölüktaş
Melisa Bulduk
Furkan Çongar
Dani Crnkić
Eda Dzhemal
Beid Emini
Arian Grošić
Elif Gürdal
Rebeca Harambaşa
Ibrahim Ibrahimovič
Alper Ismetov
Davut Kaplan
Manessa Lakhal

und Ilkay Idiskut als Lehrerin 

Abdruck aus dem Presseheft
Interview: Karin Schiefer / AUSTRIAN FILMS Januar 2024