Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 24. Oktober 2024, Teil 7
Claire Burger
Paris (Weltexpresso) - TANDEM erzählt von einem Sprachaustausch zwischen zwei Gymnasiastinnen. Wie ist die Idee zu dieser Geschichte entstanden?
Da gab es mehrere Ausgangspunkte. Ich komme von der deutsch-französischen Grenze und habe in meiner Jugend viele Sprachreisen gemacht, nach England, in die USA, nach Deutschland und Polen, und ich hatte Lust, darüber zu sprechen. Ich habe während der Pandemie angefan- gen, am Drehbuch zu schreiben. Vielen Jugendlichen um mich herum ging es nicht besonders gut. Diese Realität beeinflusste die Geschichte, an der ich arbeitete: über das Überschreiten von Grenzen und die Begegnung mit dem „Anderen“ in dem Moment, in dem du gerade deine eigene Identität entwickelst. Ich schöpfte aus meinen Erinnerungen als Teenagerin während meiner Auslandsaufenthalte und versuchte, sie ins Heute zu übertragen, und dachte dabei über das nach, was die Jugend von Heute erlebt: der Krieg vor unserer Haustür, die Klimakrise, der Aufstieg des Populismus, das postfaktische Zeitalter....
Warum haben Sie sich dafür entschieden, die Geschichte zur Hälfte in Leipzig, Deutschland, und zur anderen Hälfte in Straßburg anzusiedeln?
Ich wollte das Porträt einer europäischen Jugend zeichnen. Als Kind bin ich mit der Idee der deutsch-französischen Freundschaft aufgewachsen. In meiner Region, dem Département Moselle, wurden D-Mark und Francs genutzt. Wir wuchsen in der Überzeugung auf, dass dies unsere Rettung sein würde. Für die meisten Menschen ist Europa etwas Abstraktes, aber für mich war es sehr real. Das wollte ich greifbar machen. Dieser Schüleraustausch ist eine Metapher, um von der deutsch-französischen Freundschaft zu erzählen, und - über die Begegnung dieser zwei jungen Frauen hinaus - ein Versuch, Gesichter, Körper und Ge- fühle in ein Konzept zu bringen, das für die meisten theoretisch und trocken ist. Leipzig hat sich mir als ein Ort aufgedrängt, an dem ein Deutschland dargestellt wird, über das man wenig weiß, jedenfalls weniger als von Berlin oder München, die ein mächtiges und traditionelles Deutschland verkörpern. In Leipzig spürt man etwas von einer „alten“ ostdeutschen Atmosphäre - sehr links verankert, noch immer mit Tags übersät. Auch wenn rundherum in Sachsen der Rechtsextremismus zunimmt. Auf französischer Seite habe ich mich für Straßburg entschieden, weil es der Sitz des Europäischen Parlaments ist und ich dort einen Teil meines Studiums absolviert habe. Ich wollte das Spiel des bikulturellen Films bis zum Ende gehen: in Frankreich und Deutschland drehen, mit Filmteams aus beiden Ländern und deutsch-französischen Schauspieler*innen, um zu sehen, wie diese Beziehung auf der Ebene einer Filmproduktion funktioniert.
Der Film ist in zwei Teile geteilt, die der Perspektive der beiden Protagonistinnen entsprechen. War dies schon von Anfang an so im Drehbuch angelegt?
Ja, ich wollte mich der Frage des individuellen Blickwinkels beschäftigen. Wir leben in einem postfaktischen Zeitalter, in der wir uns ständig fragen, was wahr und richtig ist, ob das, was wir sagen, richtig verstanden oder wahrgenommen wird... In meinem vorherigen Film C‘EST ÇA L‘AMOUR hatte ich eine Vielzahl von Perspektiven und Figuren gewählt; hier kehre ich die Perspektive regelrecht um. Der Film teilt sich in zwei Teile, zwei Länder: Wir erleben die Geschichte erst mit der jungen Französin und dann mit der jungen Deutschen. Während der Film sich thematisch anfangs mit dem Lügen beschäftigt, steht im zweiten Teil das Glauben im Mittelpunkt und der Wechsel der Standpunkte ermöglicht es, die französische Sicht auf Deutschland zu verlassen und die umgekehrte Erfahrung ebenfalls möglich zu machen. Ich wollte mit den Unterschieden, aber auch mit den Ähnlichkeiten spielen, Grauzonen erforschen, Komplexitäten und Missverständnisse ergründen.
In der Begegnung zwischen diesen beiden jungen Mädchen erleben wir den langsamen Beginn einer Liebe. Sie filmen dies auf sehr sensible Art und Weise, behalten aber immer eine gewisse Distanz bei. Wie wollten Sie diese Annäherung erzählen?
Als erstes wollte ich einen Film über Freundschaft schreiben. Das ist eine sehr schwierige Sache, es gibt viele Filme über Männerfreund- schaften, relativ wenige über die Freundschaft zwischen Frauen. Nach und nach haben sich die Körper und damit eine sehr körperliche Ebene durchgesetzt, und ich habe meine Figuren ganz natürlich dazu gebracht, ein bisschen mehr als Freundinnen zu sein, weil sie sich gegenseitig durcheinanderbringen. Um diese Gefühlsverwirrung zu erzählen, brauchte es Begehren, das meiner Auffassung nach zunächst durch die Ablehnung und das Unverständnis der Anderen entsteht. TANDEM ist zu einer Liebesgeschichte geworden, aber ich hoffe, vereinfachende Darstellungen wie die der Liebe auf den ersten Blick und der romantischen Selbstverständlichkeit vermieden zu haben. In der Pubertät ist das Spektrum zwischen Liebe und Freundschaft fluide, diese Gefühle vermischen sich oft. Es ist eine Zeit, in der man versucht, eine Verbindung zum anderen aufzubauen, und in der die Verbindung zum anderen wiederum einen selbst ausmacht. Die neue junge Generation ist in ihren Liebesbeziehungen fluider als noch meine Generation und im Film geht es nicht um Homosexualität an sich, es überlagert nicht die anderen Themen, sondern ist ein einfaches Verlangen, das sich durch den Film zieht.
Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem Kameramann Julien Poupard?
Ich habe meine Methode im Vergleich zu meinen vorherigen Filmen geändert. Bei PARTY GIRL haben wir mit Laien-Schauspielern improvisiert, um durch sie eine gewisse Authentizität zu erreichen. In C‘EST ÇA L‘AMOUR haben wir mit der Schulterkamera gearbeitet, auf eine sehr „unmittelbare“ Art und Weise. Diesmal habe ich mit Ausnahme von Josefa, der jungen Deutschen, professionelle Schauspieler eingesetzt, und wir haben uns für die Steady-Cam entschieden: Es sollte der Effekt einer musikalischen Linie entstehen, einer Bewegung, eines Flusses, wie etwas, das gleitet. Wir haben mit einer Vielzahl an Verkehrsmitteln (Straßenbahn, Zug, Fahrrad), sowie mit dem Motiv des Wassers und mit Pastellfarben gespielt, in dem Willen, keinen düsteren Film zu machen. Julien und ich lieben es, uns für jeden Film formale Beschränkungen aufzuerlegen. In PARTY GIRL waren es die Gegenlichter; C‘EST ÇA L‘AMOUR konzentrierte sich auf die Blickwinkel...
Hier haben wir mit dem Irisieren gearbeitet - also damit, wie das Licht sich in einem Raum in verschiedene Farben bricht. Für mich war das eine Art, über die Unterschiede in der Wahrnehmung und der Bedeutung zu sprechen, wie ein Regenbogen mit vielen Farbstreifen. Es erlaubte mir, visuell die Frage zu stellen: Was sehen wir? Was glauben wir und was wollen wir glauben? Das ist der versteckte Sinn, der rote Faden in den Szenen, in denen die beiden Mädchen halluzinogene Pilze einnehmen.
Diese beiden in der Nacht gedrehten Sequenzen bilden so etwas wie surreale Klammern in der Mitte und am Ende des Films.
Ja, es sind zwei Liebesszenen. Ich wollte, dass die Figuren loslassen in diesen Sequenzen, in denen die Beziehung zum anderen enthemmter ist. Ich persönlich musste als homosexuelle Frau meine Sexualität und mein Verhältnis zum Begehren außerhalb der Norm, außerhalb dessen, was man mir vorschlug, finden. Meine Figuren wagen sich an bestimmte unerwartete Orte und suchen gemeinsam Etwas, das sie definieren kann. Ich mache Filme, die als naturalistisch gelten, doch es interessierte mich, auch durch traumhafte Szenen zu gehen. Diese Idee zieht sich übrigens wie ein untergelagertes Muster durch den Film: Fanny kann nicht schlafen, sie erfindet Dinge, sie lügt, um geliebt zu werden. Lena hingegen träumt und fantasiert, redet sich manchmal die Realität schön...
Fanny ist ein eher introvertiertes und mythomanisches Mädchen, das in der Schule Probleme mit Mobbing hat, wohingegen Lena aufsässig ist und die Welt verändern möchte. Warum haben Sie sich die beiden so unterschiedlich ausgedacht?
Beide, wie auch ihre Mütter, sind Figuren, die ich in mir selbst gesucht habe. Ich wurde protestantisch erzogen, mit einer gewissen Verpflichtung zur Wahrheit, zur Transparenz und zu hohen Ansprüchen. Als ich nach Paris kam, erzeugte dies eine innere Reibung in mir, es war wie ein Kulturschock angesichts dieser viel romanischeren Welt – und insbesondere in der Kino-Welt, die Geschichten erzählt, die gerne verführt und lügt...
Die Figuren im Film repräsentieren verschiedene Teile von mir, die miteinander kämpfen. Lena bin ich als Teenager, meine deutsche Seite, und Fanny bin ich jetzt, mit französischeren Seiten, d. h. die mit der Komplexität der Realität zurechtkommen muss. Es gab einen Versuch, das Mädchen wiederzufinden, das ich gewesen bin, das sehr kommunistisch war und aus einer wirtschaftlich prekären Region stammte.
Wie sind die beiden jungen Hauptdarstellerinnen, Lilith Grasmug und Josefa Heinsius, in das Projekt gekommen?
Ursprünglich hatte ich angefangen, den Film für Mädchen im Alter von 13-14 Jahren zu schreiben. Ich hatte Lilith in dem Film BLUTIGE ORANGEN gesehen und fand sie wirklich herausragend. Ich schickte ihr eine Nachricht, um ihr zu gratulieren. Sofort antwortete sie mir, dass sie sich gerade für mein Casting beworben hatte! Ich sagte ihr, dass sie leider zu alt für die Rolle sei. Schlußendlich entschied ich mich, nachdem ich viele junge Frauen gecastet hatte, doch mit ihr zu arbeiten. Sie hat diese sehr kindliche Seite der Rolle mit einer aber auch komplexeren und ängstlicheren Dimension, sehr unruhig und berührend in ihrer Art, geliebt werden zu wollen. Ich schrieb das Drehbuch für sie um und ließ die Rolle 17 Jahre alt werden, obgleich Lilith selbst 23 ist! Dann suchte ich nach der jungen Deutschen- Josefa hatte sich über Instagram beworben, ohne jemals gespielt zu haben. Sie hatte etwas sehr Reines und Direktes an sich, das mir gefiel. Wie ihre Rolle kommt auch sie aus einer umweltbewussten, linken Familie aus Ostdeutschland...
Die Begegnung zwischen den beiden war magisch.
Sie zeichnen das Porträt einer heutigen europäischen Jugend, die ängstlich und politisch engagiert gleichzeitig ist. Fanny erfindet eine Schwester, die dem Schwarzen Block angehört; Lena will den Planeten retten, weiß aber nicht, ob sie sich für Postwachstum, Umweltschutz, Neofeminismus, Tierschutz etc. einsetzen will. Ist diese Jugend so verloren und desorientiert, gleichzeitig überall und nirgends?
Meine Generation - die Generation der Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre geborenen - wollte die Welt verändern, aber es gelang ihr nicht. Alles, wovor ich Angst hatte und was mir damals unmöglich erschien, weil wir dagegen kämpften, ist eingetreten: Ich denke insbesondere an den Aufstieg des Nationalismus überall in Europa. Im Film wird dies mehrmals in Szenen von Demonstrationen, politischen Diskussionen am Tisch usw. thematisiert. Mit dem Fall der Mauer breitete sich eine ideologische Orientierungslosigkeit aus, und für die jungen Leute sind politische Überzeugungen sehr stark mit Radikalität verbunden.
Wir haben mehrere Szenen während der echten Demonstrationen gegen die Rentenreform in Straßburg gedreht und fanden uns plötzlich umringt von der Polizei, die Reizgas sprühte, und inmitten des Schwarzen Blocks wieder, dessen Anhänger*innen alle sehr jung war.
Ebenso gab es am ersten Abend in Leipzig eine Schlägerei zwischen Antifas und Neonazis – in Sachsen, wo die der Rechtsextremismus sehr präsent ist, keine Seltenheit. Der Film betont diesen Aspekt nicht; ich wollte vielmehr junge Menschen zeigen, die sich politisch aktiv wer- den wollen, sich aber ein wenig hilflos fühlen und über die Politik fantasieren, ohne zwangs- läufig in eine politische Gruppe einzutreten. Die Jugendlichen von heute sind durch das Internet an eine andere Art des Sprechens und des Forderns gewöhnt worden, ihre Beziehung zur Politik ist persönlicher geworden.
Auf beiden Seiten des Rheins scheinen die Eltern der jungen Frauen eher resigniert zu sein. Sie stellen zwei Generationen einander gegenüber...
Es gibt in der Tat eine Zäsur zwischen diesen beiden Generationen. Es ist, als würden Lilith und Josefa ihren Eltern sagen: Egal, was ihr gemacht habt, ihr habt es falsch gemacht! Wohingegen ihre Eltern der Ansicht sind, dass sie getan haben, was sie konnten, und das war schon nicht so schlecht! Man merkt den von Nina Hoss und Chiara Mastroianni gespielten Figuren an, dass sie engagiert waren. Als sie jünger waren, hatten sie ihre Überzeugungen. Aber man spürt auch, dass sie ihre Probleme haben - auch das gehört zum Erwachsenwerden. Man ist voller Hoffnungen und Ideale und wird dann vom materiellen Alltag, der Realität, eingeholt und ernüchtert.
Die Mütter sind stark, aber überfordert und ein wenig depressiv.
War es Ihnen wichtig, dass sie von zwei großen Schauspielerinnen verkörpert werden, Nina Hoss auf deutscher Seite und Chiara Mastroianni in Frankreich?
Ich wollte nicht, dass die Mütter nur bestrafen, sondern eine komplexeres, berührenderes Bild von ihnen zeichnen. Nina Hoss repräsentiert im deutschen Kino gewöhnlicherweise distanzierte, bürgerliche Figuren - dabei ist sie die Tochter eines wichtigen Politikers, der die Partei der Grünen gegründet hat! Es war interessant, sie in eine Familie von Linken, Post-Ökos, zu bringen, sie lustig und auch ein wenig vom Alkohol gezeichnet zu zeigen...
Chiara verkörpert eine autoritäre, überbeschäftigte und kontrollsüchtige Mutterfigur, die aber auch ängstlicher ist. Im Leben strahlt sie viel Sanftheit und Besorgnis aus. Im Film kümmern sich diese beiden Frauen um alles und stehen Männern gegenüber, die etwas resigniert und Erben gewisser patriarchaler Strukturen sind. Es interessierte mich, mich unter diesen unter- schiedlichen Registern des Schauspiels und der Generationen zu bewegen, und diese beiden großen Schauspielerinnen auf die zwei jungen Frauen treffen zu lassen, die gerade erst ihre ersten Schritte vor der Kamera machen.
.Die Musik nimmt im Film einen wichtigen Platz ein, vor allem mit Synthie-Teppichen, die sehr an die 80er und 90er Jahre erinnern. Wie haben Sie den Soundtrack konzipiert?
Wir wollten das Klischee von Jugendlichen, die nur Rap oder harten, minimalistischen Techno hört, vermeiden. Unter den unabhängig vom Film existierenden Musikstücken sind z.B. Songs von Altın Gün, einer türkisch-holländischen Band aus Amsterdam, die eine Fusion aus europäischem Rock und einem eher orientalischen Sound macht. Dann wurde der gesamte Soundtrack von Rebeka Warrior komponiert, für deren Band Kompromat ich ein Musikvideo gedreht hatte. Sie ist eine sehr wichtige Künstlerin in der Underground-Szene, eine großartige Melodienmacherin mit einer Affini- tät zum Synthesizer. Ihre Musik hat einen Be- zug zu Cold Wave und deutschem Techno, aber wir haben nach etwas Komplexerem gesucht. Leipzig ist die Stadt von Goethe und Bach. Wir spielten mit der Präsenz von Orgeln, mit Off- Beat Rhythmen..
BIOGRAFIE REGIE: Claire Burger
Claire Burger ist eine französische Drehbuchautorin und Regisseurin.
Ihr Kurzfilm C‘EST GRATUIT POUR LES FILLES, bei dem sie gemeinsam mit Marie Amachoukeli Regie führte, gewann 2010 den Preis für den besten Kurzfilm bei den Césars.
PARTY GIRL, ihr erster Spielfilm, bei dem sie gemeinsam mit Marie Amachoukeli und Samuel Theis Regie führte, eröffnete 2014 die Sektion Un Certain Regard in Cannes und wurde mit der Caméra d‘Or ausgezeichnet.
2018 schrieb und inszenierte sie C‘EST ÇA L‘AMOUR, der auf den Filmfestspielen von Venedig in der Reihe Giornate degli Autori als bester Film ausgezeichnet wurde.
Ihr dritter Spielfilm TANDEM - IN WELCHER SPRACHE TRÄUMST DU? feierte im Wettbewerb der Berlinale 2024 Premiere.
FILMOGRAFIE (Auswahl)
2024 TANDEM – IN WELCHER SPRACHE TRÄUMST DU? (Spielfilm)
2018 C‘EST ÇA L‘AMOUR – EUCH ZU LIEBEN IST MEIN LEBEN (Spielfilm) 2013 PARTY GIRL (Spielfilm)
2009 C‘EST GRATUIT POUR LES FILLES (Kurzfilm)
2008 FORBACH (Kurzfilm)
Foto:
©Verleih
Info:
„Langue Étrangère“, F, D, B 2024. 105 Minuten. Regie und Buch Claire Burger mit
Lilith Grasmug (Fanny)
Josefa Heinsius (Lena)
Nina Hoss (Susanne)
Chiara Mastroianni (Antonia)
Jalal Altawil (Anthar)