Die jüdischen Filmtage «Yesh!» werden 10 Jahre alt
Yves Kugelmann
Basel (Weltexpresso) - Initiant und Festivaldirektor Michel Rappaport spricht im Interview über die Gründungszeit, jüdische Filme und Perspektiven auf Filme in Krisenzeiten.
tachles: «Yesh!» schreibt sich mit Ausrufezeichen. Sie feiern nun zehn Jahre jüdische Filmtage. Ist das Ausrufezeichen Manifest oder Selbstbewusstsein?
Michel Rappaport: Für uns ist das Ausrufezeichen ein wichtiger Teil des Namens und steht auch für eine gewisse Frischheit und Frechheit. Ich hoffe, dass es so bleiben wird!
Das Programm in diesem Jahr ist stark, politisch und engagiert. Das Profil ist gewachsen. Steht das Ausrufezeichen auch für dieses klare Profil?
Mit Sicherheit. Wir haben ja auch viel dazugelernt und programmieren sicherlich mit eigener Handschrift.
Vor zehn Jahren, zu Beginn von «Yesh!», fragten viele, weshalb es jüdische Filmtage denn brauche. Wie lautet die Antwort heute?
Ich finde, dass «Yesh!» inzwischen einem Bedürfnis entspricht. Die Leute warten darauf – auch nicht jüdische. Und genau da wollen wir ansetzen: die Leute im Publikum zusammenbringen, eine Plattform sein. Aber auch das Interesse bei den Filmschaffenden hat zugenommen, sicher auch wegen der tollen Atmosphäre.
Stichwort Plattform: «Yesh!» ist inzwischen mehr als ein Filmfestival. Es ist ein Ort der Bewegung geworden, und zwar in einer Offenheit, die es im Schweizer jüdischen Alltag kaum mehr gibt. Sehen Sie sich auch als Plattform für Dialog?
Ja. Film ist dafür auch ein gutes Medium, und unterschiedliche Filme bilden die unterschiedlichen Bereiche des Judentums, der jüdischen Gesellschaft ab. Dialog und Diskurs finden ja auch bei anderen Institutionen statt, aber ich denke, dass wir mit Filmen eine andere Chance haben, die Leute anzusprechen. Filmisches Schaffen ist breit und holt die Leute ab.
Film ist sicher die offenste Form der Kunst, sprengt Grenzen und provoziert auch mal politische Debatten. Nach dem 7. Oktober sicher auch zu Israel. Wie erleben Sie das, wie halten Sie sich unabhängig?
Der 7. Oktober war eine Zäsur, auch für uns. Wir waren damals noch nicht fertig mit der Planung, und der 7. Oktober wurde schlagartig eminent. Das hat grundlegende Fragen aufgeworfen – hat das Ganze überhaupt einen Sinn? Aber wir haben uns nach dem Motto «jetzt erst recht» wieder gefangen. Der Umgang mit dem 7. Oktober hat sich stark auf unsere Programmierung ausgewirkt. Wie können wir der Situation gerecht werden, welche Filme sind passend, welche eher nicht? Interessanterweise haben einige Filme an Aktualität gewonnen, obwohl sie längst vor dem Herbst 2023 produziert worden sind.
Nach allem, was unterdessen passiert ist, werden jüdische Filmtage nun wohl anders konnotiert. Wie stellen Sie sich darauf ein?
Grundsätzlich sind wir unabhängig und wollen dies auch bleiben. Natürlich haben wir auch unsere internen Debattten und Diskussionen zu Filmen, aber das gab es auch zuvor schon. Dieses Jahr gab es ebenso Diskussionen um zwei, drei Filme. «Wie fallen die Reaktionen innerhalb der jüdischen Community aus?» Das wird logischerweise reflektiert. Aber auch die ausserjüdischen: «Wie wird dies und jenes wahrgenommen, was sind dort die Themen?» Diese Fragen haben sich aber, wie gesagt, schon immer gestellt. Und auch solche wie, was es braucht, damit wir ernst genommen werden, auch in der Filmszene.
«Yesh!» hat ein Auswahlteam, an welches die Filme eingereicht werden müssen und das die Auswahl vornimmt, alles auf Freiwilligenbasis. In diesem Jahr sind 34 Filme ausgewählt worden, schauen müssen Sie viel mehr. Wie gross ist der Job?
Für mich ist es ungefähr ein 30- bis 40-Prozent-Job. Ich kann das nur machen, weil ich meine Hauptarbeit etwas reduziert habe. Aber es geht auf Kosten der Wochenenden und Abende, auch für meine Mitstreitenden, bei denen es sicher auch stark in die Freizeit hineingeht. Es gibt jedes Jahr eine stattliche Anzahl an Filmen, obschon während der Covid-Krise nicht so viel produziert wurde. Aber für diese Ausgabe hatten wir eine Auswahl wie noch nie, sicher um die 140 Filme.
Was ist für das Auswahlteam ein jüdischer Film, wo setzen Sie die Grenzen hinsichtlich des Genres, das es so ja eigentlich auch nicht gibt?
Das hat mit Inhalt zu tun, aber ich sage immer wieder: Für mich gibt es keinen jüdischen Film. Deshalb heissen wir mittlerweile auch «Neues aus der jüdischen Filmwelt», was umfassender ist. Der Fokus «jüdisch» ist schon wichtig, aber steht nicht immer an erster Stelle dessen, was die Leute ansprechen soll. Das Wesentliche ist, dass die Filme einen inhaltlichen Bezug zum Judentum haben. Gemacht werden müssen sie nicht zwangsläufig von jüdischen Filmschaffenden, das ist bei ungefähr 30 Prozent der Filme nicht der Fall. Aber sie haben einen Bezug zu jüdischer Kultur, Gesellschaft, Religion etc.
Woody Allens Filme wären also eher chancenlos?
Seine Filme hätten sicher einen Platz bei uns, weil sein Umgang, seine Inhalte sehr viel Jüdisches an sich haben.
«Yesh!» kommt erstmals im November he-raus, vorher fand das Zurich Film Festival statt – eine undankbare Situation, weil Filme, die eigentlich beim «Yesh!» laufen müssten, da schon gezeigt wurden. Ist das ein Ärgernis?
Ärgernis ist zu viel gesagt, aber es gibt natürlich immer das Gieren nach Schweizer Premieren. Ein grosser Teil unserer Filme sind Schweizer Premieren. Haben sie sogar noch ein Startdatum und einen normalen Kino-Release, ist das Interesse an ihnen noch medienwirksamer. Als die Filmtage noch im März stattfanden, hatten wir mehr solcher Filme. Deshalb möchten wir wieder in den Monat März zurückgehen.
Es gibt sehr viele jüdische Filmfestivals, vor allem in den USA. In der Schweiz setzte sich «Yesh!» schnell durch und ist auch in Europa eines der grösseren.
Ja, London ist das grösste. dann kommen Berlin und wir, Wien und auch Genf haben sich etabliert und sind gut bekannt.
Wie sehen die nächsten zehn Jahre aus: Möchten Sie weiter wachsen oder lieber so bleiben, wie es bislang war?
Die bisherige Grösse ist eine, die noch relativ gut zu bewältigen ist. «Yesh!» muss nicht zwingend über eine längere Zeit laufen, acht Tage sind ausreichend. Und die Leute wissen ja oft schon mit 32 Filmen nicht, was sie denn nun wirklich sehen wollen. 40 Filme wären da wohl nicht hilfreich, und mit den diesjährigen 34 haben wir schon zwei mehr als letztes Jahr. 32 Filme an acht Tagen hatten wir ja seit längerer Zeit, das hat sich bewährt. Sicher ist jedoch der Datumswechsel zurück in den März, das ist wichtig. Also nächstes Mal wird «Yesh!» im März im Jahr 2026 stattfinden. Aber wir wollen erst mal sehen, wie es jetzt im November läuft, und noch gar nicht zehn Jahre im Voraus planen. Die Zeiten sind schwierig, wir haben keine Ahnung, wie die Reaktionen jetzt sein werden. Persönlich bin ich zuversichtlich, das Interesse ist riesig. Vor einem Dreivierteljahr dachte ich noch, dass kaum jemand kommen würde … Aber sicher ist man immer erst nach dem Abschluss.
Dieses Jahr gibt es auch ein Rahmenprogramm. Weshalb?
Genau. Es ist das erste Mal, und vielleicht werden wir es beibehalten. Das diesjährige Rahmenprogramm war gewissermassen eine Initialzündung, weil wir fanden, dass wir für das Jubiläum irgendetwas Spezielles haben müssten. Herausgekommen sind die Party am Samstagabend und das Podium am Sonntag.
Attraktiv wird «Yesh!» dieses Jahr sicher auch aufgrund des offenen Programms sein.
Ja, es hat darin auch diverse Filme, die bestimmt zu Kontroversen führen werden.
An welche Highlights der letzten zehn Jahre erinnern Sie sich gerne?
Ein Meilenstein war sicher die Anfangszeit, die ersten fünf Jahre. Jetzt kennt man uns, wir sind im Kulturleben der Stadt angekommen und das Interesse ist stetig gewachsen. Anfänglich nahm man uns noch nicht richtig ernst, doch vor Covid hatten wir mit 5500 Besucherinnen und Besuchern schon unseren ersten Rekord. Sehr positiv ist auch festzuhalten, dass wir mit unseren Gästen grundsätzlich tolle Erfahrungen gemacht haben. Die sind wie ein Geschenk, eine Überraschung, was da kommen mag, denn man weiss im Voraus ja nicht wirklich, wie die Leute ticken. Wir hatten da mal eine junge, sehr hübsche israelische Schauspielerin, die mit ihrem Freund auftauchte und sich ständig nur mit ihm abgab; uns ignorierte sie weitestgehend. Aber dann auf der Bühne, beim Q&A, erwies sie sich als brillant, war einfach grossartig. Gleich nachher existierte für sie wieder nur noch ihr Freund. Natürlich gibt es aber auch sehr viele andere, die sehr herzlich sind, sich aufrichtig freuen, bei uns zu sein und es lieben, mit unserem kleinen Team zusammenzuarbeiten und auch mal zum Lunch zu gehen. Solche Filmleute machen danach die beste Werbung für uns.
Gab es auch einmal eher negative Erlebnisse?
Wir hatten Amos Gitai zwei-, dreimal bei uns. Beim letzten Mal, als wir einen Film von ihm zeigten, hatten wir einen Zoom mit ihm. Er sass in gelangweilt wirkender Pose in seinem Sessel und wirkte leider völlig arrogant. Der Film war auf der Kippe gewesen, wir hatten aber beschlossen, ihn als Schlussfilm trotzdem auszuwählen, auch da Gitai in Zürich eine grosse Fangemeinschaft hat. Letztlich mussten wir uns fragen, weshalb wir das überhaupt getan hatten – es war kein gutes Schlussbouquet, jedenfalls aus unserer Sicht als Organisatoren. Wir haben daraus jedenfalls gelernt, dass auch bei einem bekannten Namen keine Garantie dafür besteht, dass es eine runde Sache wird.
Foto:
Michel Rappaport findet, filmisches Schaffen ist breit und holt die Leute ab
©tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 1.November 2024