Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 31. Oktober 2024, Teil 11
Redaktion
Hollywood (Weltexpresso) - Als Baker das Drehbuch fertigstellte, hatte er bereits eine Vorstellung davon, wie ANORA aussehen und sich anfühlen sollte. Zu den wichtigsten Entscheidungen gehörte, dass er den Film auf 35 mm mit anamorphen Objektiven drehen wollte. „In erster Linie wurde ich vom Kino der 70er Jahre beeinflusst", erklärt er. „Nicht nur von den New Hollywood-Filmen, sondern auch von den italienischen, spanischen und japanischen Werken dieser Ära. Ihr Stil und ihre Sensibilität sind prägend. Diese Mischung inspirierte mich: eine formale und kontrollierte Ästhetik mit choreografierten Kamerabewegungen, die mit anamorphotischen Breitwandbildern eingefangen werden und eine bewusste Farbgebung und eine unaufdringliche, aber stilvolle Beleuchtung besitzen. Im Grunde wollte ich eine Geschichte aufpolieren, die im amerikanischen Kino seit den 70er Jahren nicht mehr so richtig zur Geltung gekommen ist.“
Um dieses Ziel zu erreichen, arbeitete er erneut mit dem Kameramann Drew Daniels zusammen, mit dem er bereits Red Rocket drehte. Daniels verwendete für Red Rocket 16 mm-Film und war begeistert davon, sich mit Baker auf ein neues kreatives Abenteuer einzulassen. „Dieses Projekt war von Anfang an genau mein Ding“, sagt er. „Die Geschichte und der Schauplatz sowie die Tatsache, dass Sean auf 35 mm mit anamorphotischen Objektiven drehen wollte, haben mich überzeugt. Ich habe das Gef ühl, dass es für einen Filmemacher ein Initiationsritus ist, einen Film über New York City zu drehen, und genau das war es für mich. Es war ein wahr gewordener Traum."
Weiterhin beschreibt er die Gesamtstrategie, die sie entwickelten: „Sean und ich wollten eine kalte, graue Version des New Yorker Winters, die mit den satten Rottönen und grellen Farben des Clubs und Vegas in Kontrast stehen. Wir waren nicht sehr dogmatisch, was unsere Herangehensweise anging und versuchten, offen für alles zu sein. Damit wurde es wichtig, dass wir dem Gefühl der Szene folgen und uns anpassen. Das heißt, wir strengten uns an, unsere Kompositionen und Kamerabewegungen bewusst zu wählen. Zudem beschlossen wir, Handkameraaufnahmen zu vermeiden und nur zu nutzen, wenn es die Szene erforderte. Generell strebten wir einen objektiven Blickwinkel und Realismus an, aber wir ließen die Kamera auch Spafl haben und wollten einen Hauch von Humor in den Film bringen. Der Film nimmt schliefllich eine Wendung hin zum Subjektiven. Darum denke ich, dass man diesen Film nicht einfach auf eine Sache festlegen und beschreiben kann. Wenn sich die Geschichte und die Gefühle ändern, ändert sich auch unser Ansatz und die Sprache.“
Das Kino der 1970er Jahre war ein Meilenstein für praktische Entscheidungen und spezifische Referenzen. Daniels sagt: „Grundlegend versuchte ich, den Film so anzugehen, wie es unabhängige Filmemacher*innen in den 1970er Jahren getan hätten. Ich hielt die Mittel sehr einfach. Wir haben den Film überbelichtet, geblitzt, gezogen, unterbelichtet und russische anamorphotische Objektive und Zooms aus den 70ern verwendet. Wir drehten auf der Straße mit dem natürlichen Licht von New York City und Brooklyn. Dabei versuchte ich vor allem, die Art und Weise zu kanalisieren, wie Owen Roizman Stoppt die Todesfahrt der U-Bahn 1-2-3 und French Connection: Brennpunkt Brooklyn drehte. Vom italienischen Kino übernahm ich den Einsatz von Zooms und von Filmen wie Jean-Luc Godards Die Verachtung haben wir uns durch den Einsatz von Farbe und Komposition inspirieren lassen.“
Drehorte und Produktionsdesign unterstreichen das Thema der Gesellschaftsschichten und deren Zugang, die subtil im Film verwoben sind. Alles an Ivans Lebensstil ist Welten entfernt von dem, wie Ani lebt und arbeitet. Bei ihrer ersten Verabredung mit Ivan wird sie von einer Limousine von einem typischen Doppelhaus in Brighton Beach abgeholt, in dem sie mit ihrer Schwester lebt. Vorbei an gewöhnlichen Häusern in einer einfachen Gegend gelangt sie zu einem riesigen Gebäude aus Beton und Glas mit einem Pförtnerhäuschen hinter dem Eingangstor. Hier lernt Ani ein Ausmafl an Privilegien kennen, welches ihr vor der Begegnung mit Ivan kaum vorstellbar war. Als Ivan aus einer Laune heraus beschlieflt, Ani und seine Freunde nach Las Vegas mitzunehmen, reisen sie mit einem Privatflugzeug und machen es sich in einem teuren Penthouse des Hotels gemütlich. Der eigentliche Hotelgast des Zimmers wird einfach umgebucht. Die Suche nach Ivan, die sich in der zweiten Hälfte des Films entfaltet, findet dagegen in den für alle zugänglichen Orten von Brooklyn und Manhattan statt. Orte, die Ani nur zu gut kennt.
Als Produktionsdesigner Stephen Phelps zum ersten Mal auf Baker traf, diskutierten sie über eine Farbpalette, die hauptsächlich aus Weiß, Schwarz und Grau mit roten Farbtupfern in den Innenräumen bestand. Oft musste Phelps mit dem vorhandenen Dekor arbeiten, wie im Fall des Clubs auf der Westseite von Midtown Manhattan. Während die öffentlichen Bereiche des Clubs auf zwei Ebenen eine bestimmte, optisch interessante Ästhetik aufwiesen, waren andere Bereiche recht karg und boten wenig Anreiz f ür das Auge. „Viele Räume standen leer, daher brachte ich rotes Lametta ein, um diese Bereiche zu beleben. Für den Kameraschwenk, mit dem der Film beginnt, habe ich das rote Lametta in diesem Teil des Clubs verteilt. Als Drew die Aufnahme mit dem Dolly machte, reflektierten die Spiegel und die Lichter das ganze Rot.“
Bei der Ausstattung der Zakharov-Villa konzentrierte sich Phelps auf ausgewählte Räume. Er nutzte einige der groflen Einrichtungsgegenstände vor Ort, wie das ausladende Sofa im offenen Wohnbereich in der Nähe des Eingangs. Dann fügte er Einzelstücke hinzu, wie Tische, Kunstwerke oder Lampen, die eine Geschichte über die Hausbesitzer*innen erzählen sollten. Auf diese Weise drückte er deren Reichtum, Status und Geschmack aus, den sie für stilvoll halten. „Ich wollte, dass die Innenräume einen kalten Eindruck erzeugen. Es sollten große leere Räume sein, die viel Platz zwischen den Menschen boten“, bemerkt er. „Es fühlt sich eher wie ein Ausstellungsraum als ein Zuhause an. Es gibt viel Glas und neutrale Farben.
Diese Art von teurem, strengem Stil passte zum Äußeren des Gebäudes, das in seiner Architektur fast brutalistisch erscheint.“
Der Part des Films, in dem es um die Flucht nach Las Vegas geht, wurde im The Palms Hotel and Casino umgesetzt. Der Produktion war es möglich, mehrere Szenen in einem Gebäude zu drehen. Das voll ausgestattete, gläserne Penthouse ließ Phelps jedoch einen Moment innehalten. Er erklärt: „Ich war ein wenig nervös, weil es der Ausstattung der Villa ähnelte. Aber es ergab tatsächlich Sinn und brachte eine witzige Komponente ein. Ivan und seine Truppe fährt den ganzen Weg quer durchs Land, um dann in ähnlich aussehenden Räumen abzuhängen.“
Foto:
©Verleih
Info:
Stab
Regie. SEAN BAKER
Drehbuch. SEAN BAKER
BESETZUNG
Rolle Schauspieler*in
Ani MIKEY MADISON
Ivan. MARK EYDELSTHEYN
Igor YURA BORISOV
Toros. KARREN KARAGULIAN
Garnik. VACHE TOVMASYAN
Abdruck aus dem Presseheft