Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 14. November 2024, Teil 8
Redaktion
Wien (Weltexpresso) - Es gibt in der Geschichte der Neuzeit wohl kaum ein ungeheuerlicheres Phänomen, das derart übersehen wurde: Über ein Jahrhundert lang, in ganz Europa verbreitet, in Deutschland, Schweden, Österreich, Frankreich und England haben (mehrheitlich) Frauen, versucht, ihr Leben zu beenden, indem sie fast rituelle Mordtaten begingen. So hofften sie, der ewigen Verdammnis zu entgehen, die Selbstmörder:innen drohte: Denn vor ihrer Hinrichtungkonnten sie ihr Verbrechen noch beichten und nach dem Tod von Sünden gereinigt in den Himmel kommen.
Alleine im deutschen Sprachraum sind mehr als 400 Fälle dokumentiert. Selbstmord galt zu dieser Zeit strenger katholischer und protestantischer Gläubigkeit als schlimmste aller Sünden, auch, weil man es nicht mehr bereuen konnte. Die meist diesen Verbrechen und der Todessehnsucht zugrundeliegende Depressionserkrankung nannte man im Volksmund damals des Teufels Bad.
„Die Opfer waren meist Kinder, da man davon ausging, dass diese sich noch in einem Zustand der Unschuld befinden. Man könnte dem Kind damit womöglich sogar einen Gefallen tun, weil es noch sündenlos in den Himmel kommt. Und man selbst kommt auch in den Himmel. Es ist also eine Art von abgründiger Win-Win-Situation“, erklärt die in Deutschland geborene, in die USA emigrierte Historikerin Kathy Stuart von der Universität UC Davis in Kalifornien, die weltweit führende Expertin auf diesem Forschungsgebiet.
Ihre Erkenntnisse waren der Ausgangspunkt für DES TEUFELS BAD. Kathy Stuart ist während ihrer Arbeit an ihrem ersten Buch DEFILED TRADES AND SOCIAL OUTCASTS: RITUAL POLLUTION IN EARLY MODERN GERMANY (1999) auf das Phänomen gestossen, welches sie „Suicide by proxy“, also „mittelbaren Selbstmord“ nannte. „Das Buch handelt von Scharfrichtermedizin und dem Gebrauch von Leichenteilen Hingerichteter in ihren Heilmitteln. Ich befasste mich also intensiv mit der Sakralisierung der Hinrichtung und entdeckte so das Phänomen. Ein Grund, warum diese Fälle in der Geschichtsforschung nicht beachtet wurden, ist, dass sie in Archiven zusammen mit gewöhnlichen Kindsmorden einsortiert wurden und insofern nicht aufgefallen sind. „Über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg durchstöbert Kathy Stuart in der Folge 26 Archive und Bibliotheken, darunter auch das Stadtarchiv Wien. Die Suche nennt sie selbst „abenteuerlich“. So stößt sie auf Fälle wie den von Elisabeth Schmiedin, die 1714 in Leipzig einer Sechsjährigen die Kehle durchschneidet. Überzeugt von ihrer Sündhaftigkeit hatte sie zuvor eine Hinrichtung gesehen, die einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen hatte. Ihren Richtern zeigt sie ihren entblößten Nacken, um zu demonstrieren, wie sehr sie ihrer Exekution entgegenfiebert.
1723 schlägt Ursula Waser einer Dreijährigen mehrfach mit einer Axt ins Genick und bleibt neben dem toten Kind hocken, bis dessen Vater nach Hause kommt. Sie gesteht die Tat ihm gegenüber und möchte Gerechtigkeit dafür erfahren, „auf dass sie die Welt verlassen kann (damit sie ab der Welt komme)“. Ähnliches gibt auch die Oberösterreicherin Ewa Lizlfellner zu Protokoll, auf deren Schicksal DES TEUFELS BAD zum Großteil basiert. Auf die Frage des Inquisitors nach ihrem Motiv für die Tat, meint sie: „Ich wollte weg sein aus der Welt“.
Den mittelbaren Selbstmord kannte man schon früher: „Im 17. Jahrhundert begingen Frauen durch Selbstbeschuldigung der Hexerei mittelbaren Selbstmord, während Männer sich vornehmlich der Sodomie bezichtigten und dafür hingerichtet wurden.“ Diese sogenannten „okkulten Verbrechen“ bedurften keiner Beweise für die Verurteilung der Angeklagten. Doch die Richter wurden skeptisch, und Menschen, die mittelbaren Selbstmord begehen wollten, änderten ihre Taktik: Jetzt begingen sie einen Kindsmord.
Kathy Stuart hat auch eine These, weshalb es mehrheitlich Frauen waren, die Kinder getötet haben. „Die besonders strenge Sozialdisziplinierung von Seiten der Obrigkeit sowie die Kriminalisierung von Sexualdelikten wie Prostitution und außerehelichem Sex etwa ab der Mitte des 16. Jahrhunderts haben vor allem Frauen betroffen. Eine uneheliche Schwangerschaft war dem sozialen Tod gleichzusetzen. Während im Mittelalter nur etwa 2% aller Hingerichteten Frauen waren, sind es in der Frühneuzeit in Wien manchmal sogar mehr als die Hälfte. Natürlich hat auch die Hexenverfolgung dazu beigetragen. So sahen Selbstmordgefährdete immer mehr Frauen auf dem Rabenstein sterben, die ihnen ein Vorbild waren. Die Todesurteile besagten, dass sich das Publikum in der exemplarischen Strafe der hingerichteten Verbrecherinnen „spiegeln“ solle. Das taten sie - nur nicht so, wie die Richter es sich vorgestellt hatten.“
SUICIDE BY PROXY IN EARLY MODERN GERMANY: CRIME, SIN AND SALVATION, die bisher
umfangreichste Publikation zum Phänomen des mittelbaren Selbstmords von Kathy Stuart ,
ist 2023 in der Reihe WORLD H ISTORIES OF CRIME, CULTURE AND VIOLENCE im Verlag
Palgrave Macmillan erschienen und seit kurzem auch als Taschenbuch (ISBN 978-3-031 -25246-4) erhältlich.
„Einzigartig im Rahmen des Historienkinos“ – Filmwissenschaftler Olaf Möller über DES TEUFELS BAD
Je länger man über DES TEUFELS BAD nachdenkt, desto klarer wird, wie anders, eigen, einzigartig dieses Werk im Rahmen des Historienkino ist. Sicher, es gibt viele filmhistorische Verbindungen, die man aufzeigen könnte, Parallelen mit anderen Versuchen zur Vergangenheitsgestaltung, damit verbunden auch Theorien zur Erzählung von Geschichte, aber jeder wie jede zeigt am Ende vor allem, was Veronika Franz & Severin Fiala hier anders machen.
Zwei Genre- bzw. Motivfelder sind für DES TEUFELS BAD besonders wichtig: Das eine sind Filme über die Hexenverfolgung, speziell deren im Horror verankerte Spielart, das andere jenes Kino vor allem der 1970er, das mal mehr und mal weniger explizit in den Theorien der NOUVELLE HISTOIRE verankert ist.
Natürlich geht es in DES TEUFELS BAD nicht um die Hexenverfolgung! Allerdings gibt es historisch eine bemerkenswert große Schnittmenge zwischen Hexen- und Kindsmörderinnenprozessen, welche mit der staatlichen Tötung depressiver Frauen endete. Will sagen: Eine beträchtliche Anzahl an Frauen, die als Hexen zu Tode gebracht wurden, waren den Prozessakten nach höchst wahrscheinlich genauso seelisch krank wie es viele Kindsmörderinnen waren. Und da es kein Kindsmörderinnen-Genre gibt, ist der Hexenverfolgungsfilm das nächstliegende Modell. Bemerkenswert ist, dass dieses Depressions-Motiv in Filmen zur Hexenverfolgung eigentlich nie auftaucht, obwohl von der Geschichtsforschung her, also der Auswertung historischer Akten, das Material da wäre. Paolo Benvenutis auf genau solchen Akten basierende GOSTANZA DA LIBBIANO (2000) käme einem Versuch in diese Richtung noch am nächsten, und sei es nur, weil der Film zeigt, wie den Vertretern der Inquisition klar wird, dass es bei besagter Gostanza um Anderes als Teufeleien geht und sie entsprechend handeln. DES TEUFELS BAD begann seine Entwicklung im übrigen als ein Gerichtsdrama – bis von dem Sprechen eine Essenz blieb: Agnes’ Beichte, die extreme Verdichtung eines Vernehmungsprotokolls.
In seiner Faszination für die Details des bäuerlichen Alltags des 18. Jahrhunderts, wiederum, steht DES TEUFELS BAD in einer Linie mit dem Werk von René Allio, jenem Filmemacher, der ob Werken wie LES CAMISARDS (1972) oder MOI, PIERRE RIVIÈRE, AYANT ÉGORGÉ MA MÈRE, MA SOEUR ET MON FRÈRE... (1976) wie kein zweiter mit der NOUVELLE HISTOIRE assoziiert wird, einer vor allem in Frankreich weit verbreiteten Strömung der Geschichtsforschung, die sich mit dem Alltagsdasein der Durchschnittsbevölkerung, also Bauern, Arbeiter etc., beschäftigte statt mit den Leben und Taten der Großen und Mächtigen, und die dafür den Alltag dieser Menschen anhand von scheinbar banalsten Objekten zu rekonstruieren versuchten. Auf den ersten Blick, zumindest, fühlt sich DES TEUFELS BAD dieser Methode nahe; und soweit es möglich also belegbar war, hielten sich Franz & Fiala auch an die historischen Gegebenheiten – das Lied, welches Agnes immer wieder singt, stammt zB. Aus dieser Periode und war nachweislich weit verbreitet in der Region. Realiter gibt es jedoch nur sehr wenige Dokumente zum Leben der Bauern im Oberösterreich jener Periode. Um nur in Beispiel zu nennen: Es gibt exakt eine sehr naive Darstellung bäuerlichen Alltags, die eine gewisse Idee davon verleiht, wie diese Menschen gekleidet waren – ein Bild, das ist alles. Es gibt also wenig Material, aus dem sich der Alltag rekonstruieren ließe. Franz & Fiala gingen diese Frage dann induktiv an: Wenn man sich anschaut, welche Materialien den Menschen damals zur Verfügung standen, und was sie ganz konkret taten, also Fischen, Holz schlagen, etc. – wie könnten dann die Kleidungsstücke ausgesehen haben? Welches Gewand entspricht dem Alltag dieser Welt? Das führte zu einem sehr faszinierenden Ergebnis: Die Kleidung, um jetzt dabei zu bleiben, wirkt authentisch, doch frei von aller Historisierungspatina.
Das positioniert den Film an einem sehr speziellen Ort, nämlich zwischen Innen- und Außenwelt. So wie DES TEUFELS BAD immer wieder unmerklich in Agnes’ Seelenperspektive hinein- und auch wieder hinausgleitet, so bewegt sich das Geschichtsherstellungskonzept des Films zwischen rigoroser historischer Exaktheit (das wäre im übertragenen Sinne die Außenwelt) und einer Näherung der Dinge aus Agnes’ Gefühlsperspektive heraus (also die Innenwelt). Dementsprechend vermischen sich in dem Film auch zwei Haupttonlagen: Rekonstruktion und Genre – die physische Wirklichkeit der Dinge, und wie daraus ein Leiden am Leben hin zur Todessehnsucht wird.
Foto:
©Verleih
Info:
von Veronika Franz & Severin Fiala
Österreich / Deutschland 2024Deutsch, Untertitel: Englisch121'Farbe
Stab
Regie
Veronika Franz, Severin Fiala
Buch Veronika Franz, Severin Fiala
Kamera
Martin Gschlacht
Besetzung
Anja Plaschg (Agnes)
David Scheid (Wolf)
Maria Hofstätter (Schwiegermutter Gänglin)
Abdruck aus dem Presseheft