Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 21. November 2024, Teil 12
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Eine Zukunftsvision, die in schöner Umgebung stattfindet und einen trotzdem frieren läßt, demnach die Darstellung einer gesellschaftllichen Gemeinschaft, das, was man eine Dystopie nennt, also ein Ort, eine Zukunft, in der wir nicht leben wollen, in der aber Skalde (Mathilde Bundschuh), das junge Mädchen, die junge Frau erst einmal selbstverständlich zu Hause ist. Ihre labile Mutter Edith (Susanne Wolff) dagegen fühlt sich schon immer unwohl, denn sie hat eingeheiratet, blieb immer die von draußen, mißtrauisch beobachtet, während Skalde ein anerkanntes Mitglied ist. . Schließlich arbeitet sie wie ein Mann, bewirtschaftet Haus und Garten und weiß sich zu wehren, wenn es darauf ankommt.Längst hat sie die abfällige Meinung der Gemeinde zu ihrer Mutter übernommen und behandelt diese als quantité négligeable.
Der Film beginnt mit der Verteilung einzelner Personen im Wald mit Gewehren, aha eine Jagdgesellschaft, aber während sie alle ins Zentrum drängen, fühlen wir uns auf einmal in den Kinosesseln gemeint. Das hat schon was Furchterregendes, solche Männer und Frauen mit Gewehren, wenn sie einen im Fokus haben. Das werden wir an Meisis (Viola Hinz) erleben. Dieses kleine Mädchen sitzt auf einmal bei Edith, die erklärt, es habe einfach vor der Tür gestanden. Wir haben schon verstanden, daß hier Leute abgeschnitten von der Umwelt sich in einer Art Autarkie zusammengefunden haben, mit einer strickten Grenze, die nicht überschritten werden darf. Weder vom inneren Kreis nach außen, noch von außen über die Linie der Gemeinschaft nach derem Inneren. Woher also kommt nun dieses kleine Mädchen? Es selber weiß nichts und hat keinerlei Erinnerung, woher sie kommt und auch nicht, wie sie hierher gelangt ist. Das wird übrigens bis zum Schluß nicht aufgeklärt werden. Auch nicht die deutlichen Hinweise der Kamera. Gleich zu Beginn, noch ehe wir Skalde wahrhehmen, verweilt die Kamera lange auf Tierhaaren, die sich schließlich als Fellrand der Kapuze herausstellt. Dazu paßt, daß sie auf die Frage, wer sie sei, gerne antwortet: "Ein Wolf". Aber das wird nicht weiterverfolgt. Für uns ist sie ein normales Mädchen.
Noch ist Skalde ein bewährtes Mitglied der Gemeinschaft, im Denken, im Fühlen, im Handeln. Also packt sie das Mädchen und setzt es an der Stelle im Wald aus, in der wir das Kind schon gesehen hatten, bevor es bei Edith im Wohnzimmer sitzt. Während wir noch irritiert sind, wie man ein Kind im Wald aussetzen kann, ist der Denk- und Moralprozeß bei Skalde von alleine in Gang gekommen. Sie kann in der folgenden Nacht nicht richtig schlafen, weiß auch warum und wird am frühen Morgen im Wald das kleine Mädchen suchen, wiederfinden und im Haus verstecken. Denn es ist verboten, Fremde aufzunehmen. Aber trotzdem bekommt die Gemeinschaft Wind davon und Skalde wird vorgeladen, was sie da tue.
Doch ist vorher noch eine wichtige Information nötig, die im Film immer wieder kurz aufblitzt. Hier stimmt was nicht. In der Anfangssequenz vermißt ein Bauer seine Tiere, schließlich wird ein Widderkopf gefunden, ohne Körper, der Kopf abgeschlagen. Immer wieder verschwindet etwas. Auf einmal sogar die zwei Töchter eines Eingesessenen. In der Gemeinde haben sich längst Theorien entwickelt, wer dafür verantwortlich ist. Das sind einerseits normale Ängste wie wilde Tiere, es sind aber auch eindeutig mystische Erklärungen, die die Dorfbevölkerung von sich gibt, dem Aberglauben ist Tür und Tor geöffnet und die Angst der Bewohner schwitzt aus allen Poren. Das muß man sich als Hintergrund dazudenken, wenn nun Skalde vorgeladen wird. Zuvor hatte noch der Dorfälteste, auf jeden Fall die Autorität in der Gemeinschaft (Ulrich Matthes), Skalde zu Hause sanft befragt, ob sie ihm etwas zu sagen habe. Er wirkt so harmlos, aber in seinen Augen funkelt es und es gibt wirklich keinen anderen Schauspieler, der nach außen beherrscht solche Aura von hintergründiger Gefährlichkeit ausstrahlen kann wie Ulrich Matthes. Später wird er ihr sagen, wenn sie nicht endlich rede, könne er ihr nicht helfen. Auf jeden Fall steht Skalde nun auf der Anklagebank, gibt die Anwesenheit des Kindes zu und auch, daß sie es behalten will. Unterstützt wird sie von einer älteren Frau, deren Lebensgefährtin zwar dagegen ist, aber aus Solidarität dann Skalde wirklich entscheidend hilft.
Wir sind nun Zeugen der Attacken und wie die Angst der Einheimischen in Aggression gegenüber Skalde umschlägt. Das Mädchen muß weg. Da stirbt auch noch rätselhaft die Mutter und Skalde entschließt sich zu dem, was ihre Mutter immer wollte: zu fliehen. Ein am Ufer verstecktes Boot legt sie frei und paddelt mit dem Mädchen über den Fluß von dannen, in die Freiheit, die keinen Namen hat, während die Dorfbewohner verstört zurückbleiben, auch, weil sie sie nicht aufhalten konnten.
Ich konnte gar nicht anders, als an DIE WAND (2012) von Julian Roman Pölsler zu denken, der den Roman von Marlen Haushofer mit Martina Gedeck verfilmte und wo ähnlich wie hier die Natur eine eigene Rolle übernimmt, ein Mitspieler wird, vor dem sich die Bewohner fürchten, wie sie sie auch beherrschen wollen. Aber es kommen einem bei der Figur der Skalde natürlich auch die ganzen Panemfilme in den Sinn. Während des Zuschauens hat man viel Zeit zum Überlegen, wo man ist, was das soll, das heißt schließlich, daß man als Zuschauerin eigentlich auch eine Rolle spielt, nämlich die, die das Ganze zu interpretieren hat. Das sind nicht nur Fragen, was das ganze soll, was dahinter steckt, sondern eben auch Fragen der Moral, was das kleine Mädchen angeht, wie man in Gemeinschaften Meinungen bildet und wie man miteinander Entscheidungen fällt. Diese 'Freiheit' des Zuschauens, einfach, weil so viele ungeklärt ist und bleibt, klingt gut, hat aber auch eine negative Seite. Da man sich das alles nicht richtig erklären kann, wird auch die eigene Emotion gegenüber dem kleinen Mädchen oder gegenüber Skalde sozusagen runtergekühlt. Man schaut, man versucht zu verstehehen, aha, jetzt entziehen sich die beiden durch Flucht. Gut. Aber so richtig mitgefierbert hat man nicht, sondern ist nur froh, daß ein Schluß darauf verweist, daß diese Gegend, diese Menschen endlich verlassen wurde. Wohin? In eine bessere Zukunft?
P.S. Übrigens der Titel MICHZÄHNE hat damit zu tun, daß bei Wolfskindern deren Zähne nicht herausfallen, bei 'normalen' Kindern fallen die ersten Zähne, die Milchzähne beim Größerwerden heraus und es wachsen die späteren Zähne nach. Darum versucht das Mädchen ständig, sich ihrer wackelnden Milchzähne zu entledigen, damit ein Beweis für ihre Unschuld vorliegt. Doch die Mutter Edith findet das alles schrecklich und wirft diesen Zahn ins Wasser. Also muß Meisis erneut einen Milchzahn rauspulen.
Fotos:
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Info:
Stab
Regie: Sophia Bösch
Buch: Sophia Bösch, Roman Gielke
Darstellerinnen:
Mathilde Bundschuh
Susanne Wolff
Ulrich Matthes
Viola Hinz
Karin Neuhäuser
Lola Dockhorn u.a.