Leisen Grossen Toene1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 26. Dezember 2024, Teil 3

Margarete Ohly-Wüst

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der gefeierte Dirigent und Komponist Thibaut Desormeaux (Benjamin Lavernhe) ist der Leiter eines renommierten Orchesters in Cleveland. Während einer Orchesterprobe in Paris bricht er plötzlich zusammen. Es zeigt sich, dass er Leukämie hat und dringend einen Knochenmarkspender braucht. Allerdings ergibt ein Test, dass seine Schwester Rose (Mathilde Courcol-Rozès) als Spenderin nicht in Frage kommt, denn sie ist genetisch nicht mit ihm verwandt.


Thibaut erfährt erst jetzt von seiner Mutter Claire (Anne Loiret), dass er als Kleinkind von seiner leiblichen Mutter weggegeben und von seiner jetzigen Familie adoptiert wurde, was seine Eltern ihm bisher verschwiegen haben. Er macht sich auf die Suche nach seinen leiblichen Verwandten und erfährt, dass er einen jüngeren Bruder namens Jimmy Lecocq (Pierre Lottin) hat.

Jimmy landete als Kind bei der Pflegemutter Claudine (Clémence Massart-Weit), die ihn später auch adoptiert hat in einer typischen nordfranzösischen Arbeiterstadt. Dort arbeitet er als Koch in einer Schulküche und bläst in seiner Freizeit die Posaune in dem Bergmanns-Blasorchester des Ortes. Daneben versorgt er die seit vielen Monaten unter der Federführung der engagierten Sabrina (Sarah Suco) streikenden Arbeiter der kurz vor der Schließung stehende Fabrik des Ortes unerlaubt mit Essen. Inzwischen werden immer mehr Maschinen aus der Fabrik entfernt, um zu einer neu aufgebauten Fabrik nach Rumänien transportiert zu werden.

Auch wenn das bisherige Leben der beiden Brüder sehr unterschiedlich verlaufen ist, sind sie sich doch in einer Sache einig, denn beide lieben die Musik. Dabei erkennt Thibaut recht bald, dass Jimmy das absolute musikalische Gehör hat, auch wenn er bisher nur in der mit mehr oder weniger talentierten Hobby-Musikern besetzten Kapelle des Ortes gespielt hat.

Als Thibaut seinen bisher unbekannten Bruder um die Knochenmarkspende bittet, lehnt dieser erst einmal ab, wird aber von Claudine letztendlich überzeugt. Nach der Knochenmarkspende erholt sich Thibaut langsam von seiner Krankheit. Da er etwas Zeit hat, beschließt er – da der Dirigent Gilbert Woszniak (Jacques Bonnaffé) von Jimmys Kapelle den Ort verlassen muss - dort als Dirigent einzuspringen und vor allem Jimmy in die Feinheiten des Dirigierens einzuführen.

Gleichzeitig möchte er aber auch seinen Bruder, dessen Tochter und sein Umfeld näher kennenlernen. So nähern sich die Brüder langsam aneinander an und versuchen auch neben der Musik noch weitere Gemeinsamkeiten zu finden.

Daneben möchte Thibaut seinem Bruder auch eine Chance geben und ihm helfen, sein Talent zu entfalten, allerdings stößt er immer wieder auf die Unsicherheit von Jimmy, der sich wenig zutraut. Vor allem aber will er erreichen, dass die Blaskapelle bei einen lokalen Wettbewerb eine Chance hat, dort zu gewinnen und auch dass die streikenden Arbeiter auf ihre Situation aufmerksam machen können.

Auch Jimmy beginnt, von einem ganz anderen Leben zu träumen, doch ist das wirklich realistisch?


Leisen Grossen Toene2In den letzten Jahren gab es immer wieder Filme (oder auch Dokumentationen), in den Dirigenten oder auch Dirigentinnen die Hauptrollen spielten, beginnend mit dem schwedischen Film ″Wie im Himmel″ (2004), in dem der bekannte Dirigent Daniel Dareus (Michael Nyqvist) nach einem Zusammenbruch nach Hause zurückkehrt. Weitere Filme sind Todd Fields ″Tár″ (2022) mit Cate Blanchett als ehrgeizige Dirigentin, ″Die Dirigentin″ (2018) über eine der ersten Dirigentinnen Antonia Brinco, die übrigens auch ein Pflegekind war, oder Bradley Coopers ″Maestro″ (2023) über Leonard Bernstein. Außerdem sind noch erschienen: ″Kein Wort″ (2023) von Hanna Slak, in dem sich eine Dirigentin (Maren Eggert) um ihren verletzten Sohn kümmern muss, ″Divertimento – Ein Orchester für alle″ (2023) über zwei junge algerisch stämmige Frauen aus dem Arbeitermilieu, die ein Orchester gründen wollen oder der deutsche Film ″Sterben″ (2024), in dem Lars Eidinger den Dirigenten Tom Lunies spielt. Als spannende Dokumentation ist auch noch ″Ennio Morricone – Der Maestro″ (2021) zu nennen.

Jetzt hat der französische Regisseur Emmanuel Courcol, das Thema in seinem neuesten Film ″Die leisen und die großen Töne″ mit aufgenommen. Nach dem Drehbuch von ihm selbst und Irène Muscari trifft in der Tragikomödie ein Star-Dirigent auf seinen unbekannten Bruder, da er einen Verwandten sucht, der für eine Knochenmarkspende in Frage kommt. Trotz des tragischen Hintergrundes ist glücklicherweise ein wenig kitschiger aber dafür dramaturgisch etwas eigenwilligen Film mit vielen Wohlfühlmomenten entstanden, der mit seinen dramaturgischen Wandlungen immer wieder überrascht.

Nachdem die Knochenmarkspende und die anschließende Operation recht schnell abgehandelt wird, geht es im weiteren Film vor allem darum, wie unterschiedlich die Sichtweise der aus verschiedenen Milieus stammenden Brüder ist. Denn besonders Thibaut denkt über die Ungerechtigkeit des Schicksals nach, über Chancen, die ihm durch seine Adoption gegeben wurden und die Jimmy verwehrt blieben, weil Thibauts Adoptiveltern Jimmy nicht auch aufgenommen haben, da gegen allen Erwartungen sie mit Rosa noch ein eigenes Kind bekommen haben.

Dabei ist ein ganz wichtiger Ansatz des Films die interessante Frage, ob musikalisches Talent in den Genen liegen kann, wovon Thibaut wegen Jimmys absolutem musikalischen Gehör auf jeden Fall überzeugt ist. Denn obwohl beide Brüder – vermutlich von der Mutter geerbt - über großes musikalisches Talent verfügen, ist ihr Leben doch völlig unterschiedlich verlaufen. Während Thibaut ein weltweit gefragter Dirigent ist, spielt Jimmy nur in der örtlichen Blaskapelle. Thibaut wurde von seinen Eltern gefördert, während Jimmy keine Adoptiveltern gefunden hat und letztendlich bei seiner Pflegemutter geblieben ist. Allerdings wird nur kurz angesprochen, dass Thibaut für seinen Erfolg auch sein persönliches Leben hinten an gestellt hat und nicht nur täglich übt und korrepetiert, sondern auch dabei ist, eine Sinfonie zu schreiben, während Jimmy eine Tochter und eine geschiedene Frau hat.

Der Film erzählt dabei wenig über die persönlichen Hintergründe in Thibauts Familie, denn die zwei Brüdern, haben doch einiges aufzuarbeiten. Aber die Tragikomödie zeigt daneben auch ein stimmiges Bild der Lebenswelt von Jimmy und von dessen Band-Kollegen und Kolleginnen, die in einer nordfranzösischen Stadt leben, in der seit vielen Monaten gestreikt wird, weil die wichtigste örtliche Fabrik nach Rumänien verlegt werden soll.

Reizvoll sind auch die Szenen, in denen die Streikleiterin Sabrina in ihrer doch recht komplizierten Beziehung Jimmy versucht deutlich zu machen, dass er mehr ist (und sie auch mehr in ihm sieht) als der etwas unsichere Mann in der Schulkantine. Allerdings als Jimmy dann doch etwas zu hoch greift, fällt er vor allem wegen seines mangelnden Selbstwertgefühls leider wieder auf die Nase.

Wunderbar gelungen sind aber auch die Szenen, in denen Thibaut versucht, die Streikenden und auch die Musikkapelle mit Maurice Ravels Bolero zu einem Konzert in den Fabrikhallen zu bringen.

Leisen Grossen Toene3Regisseur Emmanuel Courcol hat einen sehenswerter Film geschaffen, der hervorragend die kleinen und die großen Momente des Lebens einfängt. Die Tragikomödie wird von guten schauspielerischen Leistungen getragen – allen voran von Benjamin Lavernhe als Thibaut und Pierre Lottin als Jimmy - und ist dabei sowohl schön als auch witzig aber auch mal traurig. Die Story beleuchtet auf berührende Weise die Spannungen zwischen persönlicher Berufung und sozialen Barrieren und zeigt aber auch, wie die Musik Brücken zwischen Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft schlagen kann.

Auch wenn ″Die leisen und die großen Töne″ recht konventionell endet, verweigert sich der Film doch einem zu einfachem Happy-End. Es ist ein warmherziger und sympathischer Wohlfühlfilm entstanden, der berührt aber vor allem auch hervorragend unterhält. Es lohnt, sich die Liebeserklärung an die verbindende Kraft der Musik nach Weihnachten im Kino anzusehen.

Foto 1: Thibaut (Benjamin Lavernhe) hat sein Leben der Musik gewidmet © Neue Visionen Filmverleih
Foto 2: Jimmy (Pierre Lottin) und Thibaut (Benjamin Lavernhe) sind in unterschiedlichen Milieus aufgewachsen © Neue Visionen Filmverleih
Foto 3: Sabrina (Sarah Suco) glaubt fest an das musikalische Potenzial von Jimmy (Pierre Lottin) © Neue Visionen Filmverleih

Info:
Die leisen und die großen Töne (Frankreich 2024)
Originaltitel: En fanfare
Genre: Tragikomödie, Musik
Filmlänge: ca. 103 Min.
Regie: Emmanuel Courcol
Drehbuch: Emmanuel Courcol, Irène Muscari
Darsteller: Benjamin Lavernhe, Pierre Lottin, Sarah Suco, Jacques Bonnaffé, Clémence Massart-Weit, Anne Loiret, Mathilde Courcol-Rozès, Yvon Martin, Isabelle Zanotti, Nicolas Ducron, Charlie Nelson, Marie-José Billet, Antonin Lartaud, Rémi Fransot, Johnny Montreuil, Johnny Rasse, Gabrielle Claeys u.a.
Verleih: Neue Visionen Filmverleih
FSK: ab 12 Jahren
Kinostart: 26.12.2024