Hamburg (Weltexpresso) – Am 13. September 2022 wird die kurdischstämmige Iranerin Jina Mahsa Amini in Teheran von der islamischen Sittenpolizei in polizeilichen Gewahrsam genommen. Angeblich sitzt ihr Kopftuch nicht richtig. Sie wird misshandelt, vermutlich geschlagen. Kurz darauf bricht sie zusammen und fällt in ein Koma. Um schwelende Unruhen im Keim zu ersticken, wird von den iranischen Staatsmedien am 16. September ein Überwachungsvideo aus der Polizeiwache veröffentlicht, in die Jina Mahsa Amini gebracht worden war. Es zeigt den Kollaps der jungen Frau. Allerdings trägt es keinen Zeitstempel und gibt keinen Aufschluss darüber, was im Polizeibus und direkt danach passiert sowie was zu Aminis Zusammenbruch geführt haben könnte. Die Behörden geben bekannt, die Aufnahmen seien ein Beweis dafür, dass sie an multiplem Organversagen gestorben sei, ausgelöst durch angeblichen Sauerstoffmangel im Gehirn.
An diesem Tag wird Jina Mahsa Amini offiziell für tot erklärt. Unmittelbar davor hatte die iranische Journalistin Niloofar Hamedi die Eltern der jungen Frau im Kasra-Krankenhaus besucht. Sie sprach mit ihnen, fotografierte sie, wie sie sich umarmen, und lud das Foto im Anschluss auf Twitter hoch. Dies gilt als ursprünglicher Auslöser für die folgende Protestwelle, die binnen kürzester Zeit auf das gesamte Land übergreift. Noch am Todestag Aminis bildet sich eine Protestversammlung vor dem Kasra-Krankenhaus, in dem ihr Tod festgestellt wurde. Fortan werden auch die internationalen Medien auf die Ereignisse aufmerksam und beginnen darüber zu berichten.
Am Tag darauf wird Aminis Leichnam in ihre Heimatstadt Saqqez überführt. Dort setzen sich die Proteste fort. Erstmals hört man Rufe: „Tod dem Diktator“, Plakate des Ayatollahs Ali Chamenei werden abgerissen. Und auch der spätere Schlachtruf der Jina-Proteste ertönt zum ersten Mal: „Frau, Leben, Freiheit“. Die Inschrift auf Jina Mahsa Aminis Grab wird ebenfalls zu einem Leitmotiv: „Du wirst nicht sterben. Dein Name wird ein Mahnmal werden.“ Kurdische Aktivist:innen rufen zu einem Generalstreik auf. Die Proteste greifen in der Folge auf die Universitäten und Großstädte des Landes über, setzen sich in den Provinzen fort. Die Basidsch-Milizen und die Revolutionsgarde werden angewiesen, mit voller Härte gegen die Demonstrant:innen vorzugehen.
Bei den Protesten legen Frauen ihre Hidschabs ab. Mit Berufung auf Augenzeug:innen wird berichtet, dass erstmals auf Demonstrant:innen geschossen wird. Dabei kommen Tränengas und Schrotkugeln zum Einsatz. Am 19. September werden bei einer Demonstration in Kurdistan drei Menschen von den Sicherheitskräften getötet. Schon am 20. September gibt es in 16 der insgesamt 31 Provinzen Irans regierungsfeindliche Proteste. Der Staatsanwalt in Kermanshah weist die Verantwortung des Staates zurück und erklärt, die Menschen seien von „antirevolutionären Elementen“ getötet worden. Einige von CNN befragte Augenzeugen bezeichnen die Proteste des Tages als „Blitzproteste“, die sich schnell formierten und dann auflösten, bevor die Sicherheitskräfte eingreifen konnten.
Die Anzahl der Getöteten wächst zusehends, am 21. September werden 34 Tote gemeldet, die Proteste lassen sich dadurch allerdings nicht eindämmen, sondern werden vielmehr immer stärker entfacht. WhatsApp und Instagram, die einzigen sozialen Medien und Messaging-Apps, die im Iran zugelassen sind, werden von der Regierung eingeschränkt; außerdem wird das Internet weitgehend abgeschaltet, insbesondere die Mobilfunknetze. In anderen Ländern, darunter Kanada, Italien, Schweden, die Türkei und die Vereinigten Staaten, finden Solidaritätskundgebungen mit den Demonstrant:innen statt.
In Teheran und anderen Städten zünden Demonstrierende Polizeistationen und Autos an. Geheimdienstagenten führen eine Razzia im Haus der iranischen Journalistin Niloofar Hamedi durch, die am 16. September Aminis Eltern fotografiert und das Foto auf Twitter veröffentlicht hatte. Aus den größeren Städten werden schwere Kämpfe gemeldet. In vom Staat organisierten Gegendemos fordern Tausende den Tod Israels und Amerikas und skandieren, die regierungsfeindlichen Demonstrant:innen sollten hingerichtet werden.
Elon Musk kündigt an, dass er seine Satelliten-Internetfirma Starlink aktivieren werde, um Internetdienste im Iran anzubieten. Die New York Times berichtet, dass die Sicherheitskräfte in mehreren Städten „das Feuer auf die Menge eröffneten“. Trotz der Versammlung iranischer Regierungsanhänger:innen auf dem Revolutionsplatz in Teheran und der Androhung gewaltsamer Auseinandersetzungen mit den Demonstrierenden gehen die Menschen nachts in verschiedenen Gebieten von Teheran, Buschehr, Sanandaj, Qazvin, Yazd, Urmia, Shiraz und Mashhad auf die Straße. Berichten zufolge wurden insgesamt 1200 Menschen verhaftet. Das Hacktivisten-Kollektiv Anonymous bricht in die Datenbank des Obersten Rechnungshofs des Iran ein und veröffentlicht Informationen und Telefonnummern aller Mitglieder des iranischen Parlaments.
Der Iran meldet die Verhaftung von Faezeh Haschemi, der Tochter von Akbar Haschemi Rafsandschani, der von 1989 bis 1997 Präsident des Iran war. Die Polizei verhaftet in Teheran den iranischen Liedermacher Shervin Hajipour, dessen viraler Song „Baraye“ an einem einzigen Tag über 40 Millionen Instagram-Aufrufe erhalten hatte. Am 30. September schießt die iranische Polizei während des Freitagsgebets auf Zivilist:innen, was als der gewalttätigste Vorfall der Proteste gewertet wird. Bis zu vierzig Menschen wurden in Zahedan getötet und viele verwundet, nachdem Proteste durch Berichte über einen Polizeichef ausgelöst worden waren, der ein 15-jähriges Mädchen in Chahbahar vergewaltigt hatte.
In seiner ersten Erklärung seit dem Ausbruch der Proteste vermutet der Oberste Führer Ali Khamenei am 3. Oktober ein Komplott ausländischer Feinde des Iran als Ursache für die „Unruhen“. Tags darauf werden Videos veröffentlicht, auf denen zu sehen ist, wie sich 14Schülerinnen in mehreren Städten den Protesten anschließen, ihre Kopftücher abnehmen und regierungsfeindliche Parolen skandieren. Ein in den sozialen Medien geteiltes Bild zeigt eine Gruppe von Schülerinnen, die den Mittelfinger gegen ein Porträt von Khamenei und Khomeini erheben. Die Schülerinnenproteste folgen auf den Tod der 16-jährigen Demonstrantin Nika Shakarami, die zehn Tage zuvor bei einer Demonstration verschwunden war. Präsident Ebrahim Raisi hält eine Rede, in der er zur Einheit aufruft. Iranische Sicherheitskräfte besetzen Universitäten in mehreren Städten, darunter Urmia, Täbris, Rasht und Teheran. Menschenrechtsgruppen beklagen, dass Hunderte von Kindern festgehalten werden, meist in Gefängnissen, ohne Zugang zu Anwälten und ohne ihre Eltern ordnungsgemäß zu benachrichtigen.
Am 26. Oktober weiten sich die Proteste auf 33 Städte in 23 Provinzen aus, darunter Teheran, Isfahan und Mashhad. Bis zu zehntausend Trauernde ziehen zu Fuß oder mit dem Auto zu Aminis Grab in Saqqez, um den 40. Tag seit ihrem Tod zu begehen, der traditionell das Ende der Trauerzeit im Iran markiert. Eine Gruppe Studierender der Amirkabir-Universität in Teheran ruft der Polizei zu: „Wir sind die freien Frauen, ihr seid die Huren.“
Am 30. Oktober hält ein Teheraner Gericht die ersten Anhörungen für die Personen ab, die es als „Aufrührer“ beschuldigt; mehrere Personen werden wegen „Korruption auf Erden“ und „Kriegsführung gegen Gott“ angeklagt, worauf nach iranischem Recht nach 1979 die Todesstrafe steht. Nach Angaben der iranischen Justiz wurden mehr als 1000 Anklagen erhoben. Trauerfeiern für Iraner:innen, die bei den Protesten ums Leben gekommen waren, gehen in Städten wie Karadsch und Schabad in große Demonstrationen über. Die iranische Basketballnationalmannschaft verzichtet während eines Spiels gegen China in Teheran auf das Singen der Nationalhymne. Dies wird weithin als Zeichen der Unterstützung für die Proteste gedeutet. Am 13. November verhängen die iranischen Gerichte das erste bekannte Todesurteil im Zusammenhang mit den Protesten gegen einen Angeklagten, der beschuldigt wird, ein Regierungsgebäude in Brand gesetzt zu haben.
Iran Human Rights berichtet am 29. November, dass von den 448 Menschen, die nachweislich von Sicherheitskräften getötet wurden, mehr als die Hälfte in kurdischen oder belutschischen Gebieten getötet wurden. 18 Schülerinnen der Nour-Fachschule in Qom werden ins Krankenhaus eingeliefert; es handelt sich um die erste der mutmaßlichen Massenvergiftungen von iranischen Schülerinnen, die später hohe Wellen schlagen werden. Die erste Hinrichtung im Zusammenhang mit den Mahsa-Amini-Protesten findet am 8. Dezember 2022 statt. Der 23-jährige Mohsen Shekari wurde beschuldigt, eine Straße blockiert und einen Polizisten mit einer Machete verletzt zu haben. Die UN-Generalversammlung verurteilt die Menschenrechtsverletzungen im Iran; zu Beginn des vierten Monats der Proteste demonstrieren Hunderte von Demonstrant:innen in Zahedan. Die Schauspielerin Taraneh 15Alidoosti wird eine Woche nach einem Instagram-Post vom 9. Dezember verhaftet, in dem sie die Hinrichtung von Mohsen Shekari durch den Iran verurteilt hatte. Der 26. Dezember ist der 100. Tag der Proteste. Die BBC bezeichnet die Proteste als „die am längsten andauernden regierungsfeindlichen Proteste im Iran“ seit 1979.
Mit Beginn des neuen Jahres beginnen die Proteste abzuflauen, allerdings wird aus dem Ausland der Druck auf den Iran erhöht. Der iranische Präsident reduziert die Haftstrafen von mindestens 1000 Demonstrant:innen. In einem CNN-Bericht werden Dutzende von angeblich geheimen Gefängnissen („Black Sites“) genannt, in denen Gefangene aussagen, systematisch gefoltert worden zu sein. Der schiitische Oberste Richter Gholam-Hossein Mohseni-Eje'i gibt bekannt, dass 22.000 Demonstrant:innen vor dem muslimischen Fastenmonat Ramadan begnadigt wurden. Im Juli gibt die iranische Regierung bekannt, dass die Sittenpolizei wieder Patrouillen durchführt und Frauen verhaftet, die keinen Hijab tragen.
Am Jahrestag der Proteste umstellen Sicherheitskräfte das Haus von Jina Mahsa Aminis Mutter und nehmen Aminis Vater fest, bringen ihn später in sein Haus zurück und drohen ihm, den Todestag seiner Tochter nicht zu begehen. Die Sicherheitsvorkehrungen in den kurdischen Gebieten und in den großen Städten, darunter Teheran, Karaj, Rasht und Tabriz, sind hoch.
In den Städten Zahedan, Chabahar und anderen Städten in Sistan und Baluchestan finden anlässlich des einjährigen Jahrestags des Massakers von Zahedan 2022 Proteste und Streiks statt. Die Demonstrierenden geraten mit Sicherheitskräften zusammen, zünden Feuer an und blockieren Straßen, während die Geschäfte bestreikt werden. Der Internetzugang in der Provinz wird unterbrochen, um zu verhindern, dass sich die Nachrichten über die Unruhen in anderen Städten verbreiten.
Foto:
©Verleih
Info:
Deutschland, Frankreich, Iran, 2024
Lauflänge: 167 Min.
Stab
Regie & Drehbuch Mohammad Rasoulof
Kamera Pooyan Aghababae
Darsteller
Iman Misagh Zare
Najmeh Soheila Golestani
Rezvan Mahsa Rostami
Sana Setareh Maleki
Sadaf Niousha Akhshi
Ghaderi Reza Akhlaghi
Fatemeh Shiva Ordooei
Frau im Auto Amineh Arani
Abdruck aus dem Presseheft