Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Dieser Film ist so außerordentlich, daß man vieles auf einmal versteht, für uns Deutsche vor allem, wie im Dritten Reich die Familien in der Masse nicht ein Bollwerk gegen den mörderischen Nationalsozialismus wurden, sondern deren willfährige Vollstrecker. Und wie man es darstellen kann, daß sich ein solches System von alleine entlarvt. Durch einen Film! Dieser Film ist gleichzeitig unter Umständen entstanden, die so dramatisch sind, daß man über sie zuerst berichten muß. Das Unglaubliche am fertigen Film ist dann, daß alles in einer Ruhe und filmischer Qualität vor unseren Augen abläuft, die nichts von den extraordinären Drehbedingungen erzählen.
Entscheidend ist immer, was dabei herauskommt. Das vorneweg. Und da muß sich dieser Film vor niemanden und nichts verstecken. Der Respekt vor allen Mitmacherinnen wächst, wenn man weiß, unter welchen Umständen der Film entstand. Lesen Sie bei den Äußerungen des Regisseurs nach. In der Kurzfassung hatte er gerade einen Gefängnisaufenthalt hinter sich und die neue Strafe von acht Jahren und Peitschenhieben vor sich, ein Drehverbot zusätzlich. Dieser Film hätte ihn zusätzlich ans Messer geliefert. Also hielt er sich als Regisseur verborgen, u.a. lag er im Kofferraum eines Autos, es wurde an verschiedenen geheimen Orten gedreht, was er – so technisch versiert ist die Branche inzwischen – am Bildschirm verfolgte und Anweisungen geben konnte. Die gedrehten Filmteile – geschnitten wurde er in Hamburg, wo die gesamte Produktion erfolgte – wurden an einer anderen Stelle über die iranische Grenze gebracht als der Ort, wo Mohammad Rasoulof sie persönlich überschritt, drei der vier Hauptdarsteller konnten ebenfalls fliehen, nur die im Iran sehr bekannte Soheila Golestani, die Mutter und Zentrum des Films, blieb dort. Rasoulof ging sofort nach Hamburg und legte mit dem dortigen Team los. Cannes stand direkt vor der Tür, wo der Film den Sonderpreis der Jury erhielt und nun ist er der deutsche Beitrag für den diesjährigen Auslandsoscar.
Der Film erzählt sich von selbst und man sieht 167 Minuten gebannt dem Geschehen rund um die Familie des Staatsanwaltes Imam (Misagh Zare) zu, der bisher Staatsanwalt, gerade zum Ermittlungsrichter befördert wurde – mehr Geld, mehr Ansehen, aber auch mehr Entscheidungen über Menschen. Zwei Drittel des Films sind wir in den geschlossenen Räumen der Familie und dem Auto der Familie, mit dem Mutter Najmeh (Soheila Golestani) ständig die beiden Töchter, die Studentin Rezvan (Mahsa Rostami) und die Schülerin Sana (Setareh Maleki ) zu ihren Terminen fährt. Sie ist genau die Frau, die den Ehemann zum Aufstieg motiviert, ihm für seinen Beruf den Rücken freihält, äußerst kultiviert und auch in der gut bürgerlich gestalteten und immer aufgeräumten Wohnung schon morgens perfekt geschminkt. Sie wird im Film die Person sein, die ihre Haltung, ihr Verhalten am stärksten verändern wird.
Hintergrund des Geschehens sind die massiven Unruhen im Iran um den Tod der jungen Jina Mahsa Amini während ihrer unsinnigen Polizeihaft aufgrund eines angeblich falsch gebundenen Kopftuchs. Dies sind Originalaufnahmen der Bewegung FRAUEN. LEBEN.FREIHEIT aus privaten Handys oder Kameras, die in den sozialen Medien kursierten, die in die Spielszenen hineingeschnitten werden und der Handlung innerhalb der Familie ständig den politischen Hintergrund geben, der ursächlich für die Erosion, ja Vernichtung dieser Familie verantwortlich ist, deren Oberhaupt sich bisher noch Gedanken über sein Handeln machte, aber nun erfährt, daß er ohne Untersuchung nur die von der Religionsbehörde vorgesehenen Todesurteile gerichtlich bestätigen darf und muß. Der bisher unbescholtene Imam tut es. Er macht sich mitschuldig.
Dabei fängt es ganz gesettelt an. Der Aufstieg des Familienoberhaupts wird in einem Restaurant gefeiert, die Töchter freuen sich auf eigene Zimmer in einer neuen, größeren Wohnung, aber ihre Gesichter gefrieren, als ihnen die Eltern verklickern, sie dürfen wegen der Position des Vaters ab jetzt nur noch mit Kopftuch, mit Hijab, unterwegs sein und sich von den sozialen Medien fernhalten. Es wird ab jetzt keine Situation mehr geben, in der nicht die fiebrige Unruhe der Gesellschaft ihren Widerhall in dieser Familie findet. Das setzt sich mit der schlimmen Augenverletzung einer Freundin von Rezvan durch die Polizei fort, die nur friedlich gegen den Tod der Amini protestiert hatte. Najmeh entfernt die Bleikugeln aus ihrem Gesicht, läßt die von ihr nicht gemochte Sadaf (Niousha Akhshi) sogar über Nacht in der Wohnung übernachten, sie befindet sich noch im Zwiespalt, gehorsam gegenüber dem System zu sein und gleichzeitig ihre Töchter vor ihm zu schützen.
Letzten Endes sind es die Verhaltensänderungen von Najmeh, die die Dynamik des Familiendramas widerspiegeln. Während sie am Anfang ihren Mann zum Gehorsam gegenüber dem Regime auffordert, wird sie seiner Unterwürfigkeit und seinen massenhaft ausgesprochenen Todesurteilen gegenüber erst mißtrauisch, dann ablehnend. Während man sich noch überlegt, wie es weitergehen könnte, unternimmt der Film nach zwei Dritteln eine überraschende Wendung. Er nimmt Fahrt auf, verändert erst einmal langsam Tempo und Richtung. Imam hatte dienstlich eine Pistole erhalten. Die hat er sich wie ein Revolverheld erst einmal in den Hosenbund gesteckt. Er posiert vor sich selbst mit der neuen Position. Er ist von der staatlichen Macht längst verführt und handelt nicht aus religiösen Gründen, sondern aus Unterwerfung , erst als Aufsteiger, dann als Mitläufer, schließlich als rechtloser Vollstrecker. Später liegt die Pistole unbeachtet in der Nachttischschublade, dann versteckt er sie unter der Wäsche seiner Frau. Auf einmal ist sie weg. Nun errichtet der Familienvater ein Tribunal, in dem er erst einmal allein in Einzelbefragung die Schuldige herausfinden will. Denn es kommen für die Entwendung der Pistole nur die drei Frauen in Frage. Als er nicht weiterkommt, läßt er einen beruflichen Scharfermittler ran. Doch auch dieser wird nicht fündig. Auch der Zuschauer weiß nicht, was hier los ist. Die Pistole und wer sie gestohlen hat, wird zum Synonym für alles.
Und dann ist es passiert. Jetzt werden Tempo und Richtung weiter angezogen. Die Familie sitzt im Auto, der Vater entführt sie in seine alte Heimat, wo er sie im leeren Familienhaus einsperrt, erneut befragt und schließlich durchdreht. Die drei Frauen haben sich auf unterschiedliche Weise gegen ihn stark gemacht. Ja, das mit der Pistole wird auch geklärt. Hier herrscht keine Zukunft mehr, die gehört sowieso den widerständigen Frauen.
P.S. Der Titel! Er verweist, wie die Eingangssequenz erklärt, auf einen Parasiten, dessen Samen im Vogelkot auf andere Bäume gelangt und von dort aus Luftwurzeln entwickelt, die den Gastbaum schließlich erwürgen. Langsam, aber konsequent.