Ingrid Pohu
Kanada (Weltexpresso) - Wie würden Sie die Entstehung Ihres Films kurz in Worte fassen?
Vor etwa fünf Jahren las ich in Kanada einen Zeitungsartikel mit dem Foto eines Polarfuchses, der auf einer Eisscholle gefangen war. Die Fischer, die ihn retteten, erzählten, wie sie das zitternde Tür gefunden hatten. Damit sich der unterkühlte Polarfuchs aufwärmen konnte, steckten sie ihn zunächst in eine Kiste, bevor sie ihn wieder freiließen.
Beim Lesen fragte ich mich, woher dieser Polarfuchs kam, welchen Weg er zurückgelegt hatte und was wohl aus ihm wurde? Ich bin von dieser wahren Geschichte ausgegangen, um das Drehbuch zu schreiben. Für mich trägt dieses ausdrucksstarke Bild des Fuchses auf der Eisscholle bereits eine Dramaturgie in sich. Genau danach suche ich, wenn ich einen Film mache.
Warum erzählen Sie die Geschichte in Form eines Märchens?
Die universelle Dimension des Märchens ist immer wichtig. Die Abenteuer, die unsere beiden Helden erleben, passieren auch vielen anderen Tieren auf unserem Planeten. Ein Märchen ist oft eine Lektion fürs Leben. Aber mich treibt vor allem der fi ktionale Aspekt an, weil ich so gerne Geschichten erzähle. Und weil ich mit Tieren arbeite, die an Kameras gewöhnt sind, kann ich die Reflexion mit Hilfe der Dramaturgie weiter ausführen, ohne die Glaubwürdigkeit der Geschichte aufs Spiel zu setzen.
Mein Stoppschild setze ich genau dort, wo sonst der Anthropomorphismus einsetzen würde. Dank meiner Vergangenheit als Biologe kenne ich das Verhalten der Tiere und wenn ich meine Charaktere entwickele, umgebe ich mich mit Wissenschaftlern und Spezialisten. Wenn ich das Gefühl habe, zu weit zu gehen, bitte ich sie um Rat.
Mit welchen Charaktereigenschaften wollten Sie Kina und Yuk ausstatten?
Sie sind Kämpfernaturen. Das versuche ich auch meinen Kindern mitzugeben. Auch wenn die Situation ausweglos erscheint, sag ich ihnen immer: „Gebt nicht auf!“ Manchmal braucht es nicht viel, um eine Situation umzudrehen. Mein Job besteht darin, kleine Samenkörner zu säen. Ich mag es, ein wenig wie ein Gärtner zu agieren. Danach können diese Samen in den Köpfen der Menschen wachsen oder auch nicht. Man gibt die Richtung vor, schafft es, Emotionen zu wecken und danach ist es am Zuschauer, davon etwas zu übernehmen. Eines Tages sagte mir eine Mutter, die meinen Film Ailos Reise gesehen hatte, in dem es um das Überleben eines kleinen Rentiers geht: „Die kleine Ailo wird meiner Tochter helfen, älter zu werden.“ Das rührte mich zu Tränen.
Wie konnten Sie mit den beiden Polarfüchsen drehen?
Die Palette der Verhaltensweisen von Kina und Yuk ist sehr breit gefächert. Am Set entstand vom Kamerateam um die Tiere herum ein „Kreis des Vertrauens“. Das ist wie ein Ballett zwischen den Tieren und uns. Je nachdem, wie sie sich verhalten, betritt man diesen Kreis oder tritt aus ihm heraus. Wenn ein Tier etwas gestresst ist, entfernt man sich, wenn das Tier cool drauf ist, nähert man sich ihm wieder mehr. Das bedeutet, man muss das Verhalten der Tiere immer im Auge haben. Wenn ich drehe, halte ich ein Auge an den Sucher, damit ich sehe, was ich filme. Aber im Gegensatz zur großen Mehrheit der Kameramänner lass ich das zweite Auge auf. Ich möchte in der Lage sein, vorausschauend zu handeln, um sofort reagieren zu können. Dennoch überraschen mich die
Tiere immer wieder. Sie sind oft einfach unberechenbar.
Wie konnten Sie sich an die Verhaltensweise der Tiere anpassen?
Man muss sie genau beobachten. Ich erkenne, ob sie sich sicher fühlen und aufmerksam sind; welches Tier gut reagiert, uns Menschen nicht fürchtet und keine Angst um sein Leben hat. Die Empathie ist für mich das Wichtigste. Man muss sich in das Denken eines Tieres einfühlen. Natürlich schreibt man eine Szene so, wie man sie sich idealerweise wünscht. Aber man muss immer noch drei andere „Pläne B“ in Reserve haben, weil Tiere Darsteller sind, die fortwährend improvisieren. Man
sagt ja immer, das Kino sei die Kunst der Bewegung, aber hier ist es das Tier, dass mir meine Kamerabewegungen diktiert. Und man benötigt viel Geduld, um bei Füchsen, Katzen oder Rentieren Regie zu führen, weil man die Zeit, die ein Tier benötigt, respektiert.
Sie haben in Dawson City (im Film Jack City) gedreht, der Stadt, in der Jack London gelebt hat. Ist sein Buch Ruf der Wildnis eine Referenz?
Ja! Dort hat er in seiner Hütte auch Wolfsblut geschrieben. In dieser Gegend der kanadischen Nordwest-Territorien sinken die Temperaturen auf mehr als 40 Grad unter null. Und das sechs Monate im Jahr. Das Klima ist sehr rau und daraus erwächst eine gewisse Form der Wahrheit. Da draußen in der Natur kann man nicht „lügen“. Man muss „ungeschminkt“ durchs Leben. Das Leben ist dort sehr hart, sehr geerdet. Genau danach habe ich auch in der Bildsprache gesucht. Übrigens sind die Einwohner dort so geblieben wie zur Zeit des Goldrauschs. Das ist schon beeindruckend: Man kann noch mit Gold bezahlen, es gibt Goldwaagen und der Saloon und die Casinos sind immer noch da. Man musste vor Ort nichts ändern, das war wie ein Filmset. Es ist der „Wilde Norden“ im Gegensatz zum „Wilden Westen“. Mit DIE ABENTEUER VON KINA & YUK wollte ich einen Tierwestern im Norden drehen, wo die Geschichte durch die Folgen des Klimawandels ausgelöst wird.
Warum haben Sie mit Elementen des Westerns gespielt?
Ich greife auf Spannungselemente des Westerns zurück, vor allem, als Kina aus den Bergen herunterkommt, um sich in der Stadt einen Ort für ihren Fuchsbau zu suchen, und in einer wilden Verfolgungsjagd vor Wölfen fl iehen muss. In dieser Szene ist es ein bisschen wie in Sergio Leones
Zwei glorreiche Halunken. (Anm. der englische Titel ist: The Good, the Bad and the Ugly). Der Böse ist der Wolf, die Guten sind Kina und Yuk, und der Gauner ist vor allem der Marder, ein kluger Kerl, der die Situation ausnutzt. Und selbst die Musik evoziert den Italowestern. Das sind Anspielungen, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen ansprechen. Eigentlich ist mein Film ein „Northstern“!
Menschen sieht man bis auf einen Trapper und Einwohner von Jack City kaum. Warum kann man sie auch nie hören?
Das stimmt. Sie sind schon anwesend, aber mehr als Teil der Landschaft und indirekt, wenn man sieht, was Menschen der Natur antun. Ich finde es stärker, wenn es angedeutet wird, dann spielt die Vorstellungskraft viel stärker mit.
Sie zeigen auch die Konsequenzen der Erderwärmung und des Klimawandels, wenn das Packeis zu schnell schmilzt. Möchten Sie beim Zuschauer dafür ein größeres Bewusstsein schaffen?
Das ist die Realität. Auf Grund der Erderwärmung sieht man im Film einen Rotfuchs, der normalerweise in ganz anderen Regionen zu Hause ist. Nun nimmt er dem Polarfuchs seine Nahrung weg. Der Rotfuchs kann sich gut anpassen. Er frisst alles. Aber der Polarfuchs ist auf eine sehr viel spezifischere Nahrung angewiesen. Um sein Überleben zu reten, muss der Polarfuchs sich woanders verorten und verändern. Es ist wie ein Verlust der Heimat, wie eine Flucht ins Exil. Diese sehr realen
Geschehnisse finden an vielen Orten der Welt statt. Ich möchte nicht moralisieren, mich interessiert ein Film, der Gefühle auslöst, indem ich zeige, was die Füchse erleben. Und so kann man damit beginnen, sie zu beschützen, wenn das Publikum plötzlich mit Empathie und Zuneigung reagiert. In diesem Sinn sendet der Film einen positiven Impuls aus, um die Natur zur erhalten.
Wollen Sie, dass Ihr Film eine Brücke baut?
Das ist meine Absicht: eine Verbindung zwischen dem Fuchs, seiner Geschichte und dem Zuschauer aufzubauen, wobei das Alter des Betrachters keine Rolle spielt. Ich wünsche mir, dass gerade Kinder, nachdem sie den Film gesehen haben, in einer Internetsuche „Polarfuchs“ eingeben, um mehr über ihn zu erfahren. Dann werden sie herausfi nden, dass sich die Arktis doppelt so schnell erwärmt, wie andere Regionen. Es ist dann sinnvoller, Lebewesen in dieser Umgebung zu zeigen. Und ich glaube,
dass die Menschen mehr Sinn im Leben brauchen.
Sie haben sich in Ihrem Film viel Zeit genommen…
Es muss schon eine gewisse Entwicklung geben, damit der Zuschauer sieht, wie sich das Tier an die Natur anpasst. Dafür muss man sich auch die Zeit nehmen. Wir leben in einer Gesellschaft, wo alles sehr schnell geht, man sich schnell durchklickt. In der Vergangenheit hat es immer klimatische Umwälzungen gegeben, aber die Natur konnte sich dafür Zeit nehmen, darauf reagieren, sich anpassen. Der Mensch berücksichtigt das nicht und die Natur kann so nicht mehr Schritt halten. Ich zeige in meinen Filmen, wie sich die Jahreszeiten verändern. Für Kina und Yuk besteht also die Frage: Wird es den beiden gelingen, sich der Erderwärmung anzupassen?
Hatte dieser Klimawandel auch Einfluss auf die Dreharbeiten?
Im vorigen Jahr schmolz das Packeis sehr früh im Jahr. Das erschwerte die Dreharbeiten, weil das Eis nicht mehr so viel tragen kann. Wenn das Eis schneller schmilzt, hat der Eisbär viel weniger Zeit, um sich einen Nahrungsvorrat anzulegen. Er ist dann im Sommer vom Hungertod bedroht. Das gilt auch für den Polarfuchs, der dem Eisbären folgt. Alles hängt zusammen. Aus Sicherheitsgründen mussten wir dann übrigens auch mit einigen Special Effects arbeiten in der Szene, wo die Eisfelsen
ins Wasser stürzen.
Wie haben Sie sich an die sehr kalten Temperaturen bei oft Minus 40 Grad beim Dreh angepasst?
Man benutzt dabei das Zwiebelprinzip und trägt mehrere Kleidungsschichten übereinander, die man je nach Bedarf hinzufügt oder auszieht. Man darf vor allem nie schwitzen. Natürlich wird alles langsamer und es ist ebenso körperlich wie seelisch anstrengend. Dabei steht man dann als Mensch Tieren gegenüber, denen diese Temperaturen nichts ausmachen, weil sie daran gewöhnt sind. Spätestens dann wird einem klar, dass wir Menschen nicht für so ein Polarklima gemacht sind.
Welche Szenen waren denn besonders schwierig zu drehen?
Alles was wir in Dawson City drehten. Es ist eine Umgebung, die Polarfüchse nicht kennen und daher für sie sehr beunruhigend und feindlich ist. Die gesamten Nachtdrehs erwiesen sich als kompliziert, weil die Füchse durch die Gerüche von Menschen, Hunden und Wölfen ganz anders stimuliert wurden. Während wir drehten, tauchte ein Wolf in der Stadt auf, der nach herumirrenden Hunden suchte. So kam ich auf die Idee des Duells zwischen den Hunden und Wölfen.
Ist es Ihre Absicht, so realistisch wie möglich zu fi lmen und zu erzählen?
Das ist mir deshalb so wichtig, weil ich bei einem jungen Publikum glaubhaft bleiben muss. Ich werde immer wieder von Kindern gefragt, ob es meine Helden wie Rentier Ailo, oder auch Kina und Yuk wirklich gibt? Ich drehe ja keine Animationsfi lme. Ich mache „echtes, reales Kino“. Kina und Yuk existieren wirklich. Auch die Freundschaft zwischen der Füchsin Kina und der Hündin Rita beruht auf wahren Begebenheiten. Die kleinen Füchse und Wölfe, mit denen wir gedreht haben, sind bei Rita aufgewachsen. Sie ist für alle diese Tiere wie eine Ersatzmutter. Wenn ich Kina filmte, stand Rita hinter der Kamera und war da, um sie zu beruhigen. Und Kina kam auch, um Rita sanft zu necken. Die Freundschaft zwischen den beiden bestand bereits.
Sie drehen sehr sinnliche Filme, in denen der Ton und die Geräusche wichtig sind. Warum?
In einem Kinosaal achten die Zuschauer sehr auf den Ton. Ich kann den Herzschlag von Kinas Fuchswelpen spürbar machen oder das Klima und die Kälte durch den Atem näher beschreiben. Dieses Genre entfaltet im Kino seine ganze Kraft. Ich möchte, dass die Emotionen erfassbar
werden und das kann ich mit Hilfe des Tons erreichen. Die Zuschauer sollen in meine Filme eintauchen.
Wer sind Ihre filmischen Vorbilder?
Mein Triumvirat besteht aus: Steven Spielberg, Hayao Miyazaki und Tim Burton. Spielberg steht für das Märchenhafte, Miyazaki für die reine Darstellung der Natur und Burton für das Fantastische, das man in meinem Film in der Szene mit den Nordlichtern spürt. Alle drei Filmemacher helfen einem dabei, erwachsen zu werden. Ich hoffe, dass mir das auch gelingt. Ich bin davon überzeugt, dass ein Gefühl, eine Emotion ausreicht, um dabei zu helfen, etwas Gutes zu tun. Ich bin da vielleicht naiv,
aber ich stehe dazu.
Wie wichtig ist Ihnen die Musik von Julien Jaouen?
Wir sind wie Komplizen. Er stellt sich permanent selbst in Frage. Ich suche nach neuen Herausforderungen. Schon vor Drehbeginn macht er Vorschläge, spielt mir diverse Themen vor. Das ist eher unüblich, weil der Filmkomponist meistens erst nach dem Schnitt eingreift. Julien Jaouen
komponiert Musik, die vom Drama bis zur Komödie reicht. Manchmal bitte ich auch darum, genau das Gegenteil zu versuchen, damit die Musik nicht zu dominant wird und das Bild „kaputt“ macht.
Fortsetzung folgt
Foto:
©Verleih
Info:
STAB
Regie: Guillaume Maidatchevsky
Drehbuch: Guillaume Lonergan,
Guillaume Maidatchevsky,
Michael Souhaité
Produktionsgesellschaften: Valdés, TF1 Studio, France 3 Cinéma,
Les Productions Rivard,
Christal Film Productions,
Adler Entertainment,
BNP Paribas Pictures, Canal+,
France Télévisions
Unterstützt durch: CNC, Téléfilm Canada, SODEC,
Yukon Film Production Fund,
Crédit Provincial Manitoba
Deutsche Fassung: FFS Film & Fernsehsynchron München
im Auftrag von polyband Medien GmbH
Deutsche Erzählerin: Sabine Lorenz
Deutsches Buch & Regie: Marika von Radvanyi
DIE DEUTSCHE ERZÄHLSTIMME: SABINE LORENZ
Als Erzählerin begleitet Sabine Lorenz die beiden Polarfüchse auf ihrer Abenteuerreise. Lorenz arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Schauspielerin, Sprecherin und Regisseurin. Dank ihrer besonderen Erfahrung in den Bereichen Voice-Over, Hörspiel und Synchron gehört sie heute zu den profiliertesten Stimmen im deutschsprachigen Raum.
Das Interview von Ingrid Pohu fand im Oktober 2023 statt