TV-Premiere aus Anlass des 80. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am Montag, 27. Januar 2025 beim ZDF
Margarete Ohly-Wüst
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – 1988 wird der 79jährige Nicholas ″Nicky″ Winton (Anthony Hopkins) von seiner Frau Grete (Lena Olin) gebeten, in seinem Arbeitszimmer doch etwas aufzuräumen. Dabei findet er in einer Schublade seines Schreibtischs eine alte Ledermappe. Darin befinden sich alte Unterlagen, die er aber erst einmal nicht entsorgen will.
Dadurch erinnert er sich an das Jahr 1938 als er als junger Londoner Börsenmakler (jetzt Johnny Flynn) einen Anruf aus Prag bekommen hat. Eigentlich wollte er zum Jahresende 1938 zum Skifahren in die Schweiz fahren, als ihm sein Freund Martin Blake (Ziggy Heath) vorschlug, er solle stattdessen nach Prag kommen. Blake selbst arbeitet mit, Erwachsene aus Prag ins Ausland zu bekommen. Er bittet ihn dabei zu helfen, jüdische Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und dem Sudetenland außer Landes zu bringen, denn niemand glaubt daran, dass Deutschland nach dem Sudetenland nicht bald auch in die restliche Tschechoslowakei einmarschieren wird.
Nicky Wintons Familie stammt eigentlich aus Deutschland und hieß früher Wertheim, dadurch hat er jüdische Vorfahren, ist selbst aber anglikanisch getauft und bekennender Sozialist. Er hat außerdem bereits in Wien gearbeitet. In Prag trifft er sich mit Doreen Warriner (Romola Garai), der Leiterin des Prager Büros des Britischen Komitees für Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei (BCRC). Sie zeigt ihm die Zustände in den Flüchtlingslagern und bittet ihn etwas zu unternehmen. Er ist von den Zuständen entsetzt und beschließt, sich selbst für die Rettung zumindest der jüdischen Kinder einzusetzen.
Die Mitarbeiter des Büros bestechen die Gestapo und Eisenbahner in Prag und fälschten auch die Einreisepapiere. Winton selbst fotografiert viele der teilweise allein lebenden Kinder und fährt nach London zurück, wo er sich zusammen mit seiner Mutter Babette Winton (Helena Bonham Carter) dafür einsetzt, dass Großbritannien möglichst viele der jüdischen Kinder aufnimmt.
Beide versuchen den starren Apparat zu überwinden, damit Winton Visa bekommen kann, außerdem sammeln sie Spenden, da für jedes Kind 50 Pfund hinterlegt werden muss (um auch die Rückfahrt bezahlen zu können) und außerdem müssen auch Pflegefamilien für die nach England zu holenden Kinder vorgewiesen werden.
Während Nicky in Prag Kinder für englische Visa fotografiert, kämpft Babette Winton weiterhin in London mit der Bürokratie. Es ist ein großartiger Tag als die ersten acht Kinder in London ankommen. Doch es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, da unklar ist, wann Deutschland in die restliche Tschechoslowakei einmarschieren wird und wie lange die Grenzen danach noch offen sind. Die Gruppe versucht Sonderzüge für die Kindertransporte zu organisieren.
Letztendlich konnten von März bis August 1939 insgesamt acht Züge mit etwas über 650 Kindern Prag in Richtung England verlassen. Ein neunter Zug mit 250 Kindern wurde im September von der Gestapo gestoppt, die Kinder wurden in Gewahrsam genommen, da am gleichen Tag Deutschland in Polen einmarschiert ist. Weder von den Familien der Geretteten noch von den Kindern des letzten Zuges sind Überlebende bekannt.
Beim Aufräumen 50 Jahre später kann Nicholas Winton sich nicht dazu durchringen, seine alten Unterlagen in der Ledermappe, die er vor 50 Jahren von Trevor Chadwick (Alex Sharp), einem anderen Mitarbeiter des Prager Büros, geschenkt bekommen und in der er seine Arbeit für das BCRC festgehalten hat, mit Fotos und Listen der Kinder, zusammen mit seinen übrigen Papieren wegzuwerfen. Denn Nicholas macht sich auch 50 Jahre später immer noch Vorwürfe, weil er nicht mehr Menschen retten konnte.
Nachdem die lokale Zeitung kein Interesse an den Unterlagen gezeigt hat, überlegt Winton bei einem Mittagessen zusammen mit seinem alten Freund Martin Blake (jetzt: Jonathan Pryce), was er mit den ganzen Unterlagen anfangen soll. Er möchte sie evtl. einem Holocaust-Museum überlassen, möchte aber gleichzeitig auch ein wenig Aufmerksamkeit auf die aktuelle Notlage von Flüchtlingen lenken.
Martin Blake hat eine andere Idee, und so landet das Album in den Händen von Elizabeth Maxwell (Marthe Keller), die es an ihren Mann, den tschechoslowakisch-britischer Verleger Robert Maxwell weitergibt. Dadurch gelangt es in die Hände des Produktionsteams der von der BBC produzierten TV-Show That's Life! mit Moderatorin Esther Rantzen (Samantha Spiro), eine Sendung, bei der Winton im Fernsehen allerdings immer weggeschaltet hat. Nicholas Winton wird in die Sendung eingeladen und gebeten sich in die erste Reihe ins Publikum zu setzen. Während er Sendung wird er überrascht, denn neben ihm sitzen Erwachsene, an deren Rettung er 1938 beteiligt war…
Sir Nicholas George Winton MBE (19.05.1909 – 01.07.2015) war ein britischer Bankier, der zusammen mit anderen versucht hat, kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs möglichst viele meist jüdische Kinder aus Prag nach England zu bringen. Andere Mitarbeiter, die auch im Film genannt werden, waren der Lehrer Trevor Chadwick (22.04.1907 – 23.12.1979) und die Entwicklungsökonomin Doreen Warriner OBE (16.03.1904 – 17.12.1972). Warriner hat etwa 15000 Menschen geholfen, aus der Tschechoslowakei zu fliehen. Beide waren aber 1988 als die Aktionen näher bekannt wurden, schon gestorben. Beiden wurde im Abspann des Films auch gedacht.
Insgesamt wurden durch die auch im Englischen unter dem Namen ″Kindertransport″ bekannten Aktionen über 10000 Kinder und Jugendliche aus der Tschechoslowakei heraus gebracht. Winton konnte durch seinen Einsatz genau 669 meist jüdische Kinder nach Großbritannien bringen.
Der Film ″One Life″, der die Rettung der Kinder 1938/1939 und das Bekanntwerden 1988 behandelt, beruht auf dem Sachbuch If it’s Not Impossible…: The Life of Sir Nicholas Winton (2014) von Barbara Winton, der Tochter Nicky Wintons. Das Drehbuch stammt von Lucinda Coxon und Nick Drake, die die Story in zwei wichtige Perioden in Wintons Leben teilten. Regie führte James Hawes. Der Film wurde ab September 2022 in London und danach in Prag gedreht. Barbara Winton starb leider im September 2022, bevor der Film in die Kinos kam, allerdings arbeitete sie bis zu ihrem Tod an der Produktion des Films mit. Sie bat auch darum, dass Anthony Hopkins ihren Vater spielen sollte.
Beide Hauptdarsteller spielen die verschiedenen Ebenen von Wintons Erwachsenenleben hervorragend. Johnny Flynns zeigt eine tolle Leistung als junger etwas naiver aber zupackender Menschenfreund, der voller Entschlossenheit einfach nur versucht, das Richtige zu tun. Anthony Hopkins Rolle erfordert dagegen eine schwer fassbare Körperlichkeit und Abgeklärtheit des Alters, aber auch eine große Traurigkeit. Diese Gefühle werden vor allen durch die Nahaufnahmen des Gesichts dargestellt. Aber gleichzeitig zeigt Hopkins auch den Stolz, den die späte Anerkennung von seinen Leistungen in ihm auslöst.
Außer mit Anthony Hopkins als Nicholas Winton und Johnny Flynn als der junge Nicky Winton ist der Film auch mit Helena Bonham Carter als Babette Winton, Romola Garai als Doreen Warriner, Alex Sharp als Trevor Chadwick und Jonathan Pryce als der älterer Martin Blake, sowie in kleineren Rollen der Schwedin Lena Olin als Wintons dänische Ehefrau Grete, der Schweizerin Marthe Keller als Elizabeth ″Betty″ Maxwell und dem bulgarisch-deutschen Schauspieler Samuel Finzi als Rabbi Hertz hervorragend besetzt.
Daneben spielten einige der Nachfahren der damals geretteten Kinder als Komparsen in den Szenen während der TV-Show That's Life! mit. Es wird vermutet, dass es heute mehr als 6000 Nachfahren der 669 geretteten Kinder gibt.
Regisseur James Hawes betritt mit dem Film kein Neuland, aber das Drama ist auf jeden Fall handwerklich gut und fesselnd gemacht. Es wird deutlich, wie schwierig es war, auch in England die Bürokratie zu überzeugen, dass den Flüchtlingen in Prag geholfen werden muss. Hier zeigt der Regisseur, dass es vor allem die von Helena Bonham Carter gespielte Babette Winton war, die in London unermüdlich und mit viel Überredungskunst dafür gesorgt hat, dass die Prager Gruppe Einreisevisa für die Kinder bekam, die dann mit Zügen über Polen und dem Baltikum und dann mit Schiffen nach England und mit dem Zug zum Londoner Liverpool Station gebracht wurden.
Der Titel des Films ″One Life″ bezieht sich übrigens auf einen bekannten Spruch aus dem Talmud: Whoever saves a single life is considered by scripture to have saved the whole world. (Wer auch nur ein Leben rettet, rettet die ganze Welt).
Insgesamt hat ″One Life″ ein brillant geschriebenes Drehbuch, das von Regisseur James Hawes mit Wärme und Unaufgeregtheit inszeniert wurde. Das macht den Film auch zu etwas späterer Zeit zu Hause unbedingt sehenswert.
Foto 1: Noch ahnt Nicholas Winton (Anthony Hopkins) nicht, dass er gleich viele jener Menschen wiedersehen wird, denen er als Kinder das Leben rettete © ZDF / Peter Mountain
Foto 2: Der junge Nicholas Winton (Johnny Flynn) © ZDF / Julie Vrabelova
Foto 3: Am Prager Bahnhof spielen sich herzzerreißende Szenen ab, wenn die Eltern ihre Kinder verabschieden, die nach England fahren. © ZDF / Julie Vrabelova
Foto 4: Nicholas Winton (Anthony Hopkins) und seine Frau Grete (Lena Olin) im Frühjahr 1988 in ihrem Haus bei London. Nicholas liest einen Brief des Verlegers des "Sunday Mirror", der einen besonderen Vorschlag enthält © ZDF / Peter Mountain
Info:
One Life (Großbritannien 2023)
Originaltitel: One Life
Genre: Drama, Biopic, Historie, Kindertransporte
Filmlänge: ca. 110 Min.
Regie: James Hawes
Drehbuch: Lucinda Coxon, Nick Drake
nach dem Sachbuch von Barbara Winton: If it’s Not Impossible…: The Life of Sir Nicholas Winton (2014)
Darsteller: Anthony Hopkins, Johnny Flynn, Helena Bonham Carter, Adrian Rawlins, Romola Garai, Lena Olin, Jonathan Pryce, Ziggy Heath, Alex Sharp, Marthe Keller, Samantha Spiro, Samuel Finzi, Juliana Moska, Henrietta Garden, Frantiska Polakova u.a.
FSK: ab 12 Jahren
Das ZDF zeigt die Free-TV-Premiere von "One Life" aus Anlass des 80. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, dem Holocaust-Gedenktag am Mo. 27.01.2025. Der Film wird am Mi. 29.01.2025 um 00:15 Uhr wiederholt. Er ist nach der Ausstrahlung noch 10 Tage in der ZDF-Mediathek abrufbar.
Noch zwei Tipps: Neben weiteren Sendungen im Fernsehen bringt 3SAT zum Holocaust Gedenktag am Mi. 30.01.2025 um 22:35 Uhr den deutsch-österreichischen Fernsehfilm ″Die Kinder der Villa Emma″ (2016), im den nach wahren Begebenheiten über die Flucht von jüdischen Kindern während des Zweiten Weltkriegs über Italien bis in die Schweiz erzählt wird und am Fr. 31.01.2025 um 20:15 Uhr den englisch-deutschen Spielfilm ″Die Kinder von Windermere″ (2019) nach einer wahren Geschichte von 300 Kindern, die den Holocaust überlebt haben und 1945 nach England gebracht werden. Dort wird ihnen Hoffnung auf ein neues Leben gegeben.