gotteSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 30. Januar 2025, Teil 6

Christel Schmidt

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - ‚Der ganze Scheiss hier - das ist mein Leben‘.
Wenn Hannah, Tochter und gläubiges Freikirchenmitglied, diesen Satz in den letzten Minuten dieses beklemmenden, gut gebauten und gut gespielten Films sagt, dann ist schmerzhaft klar, dass es kein Entkommen, keine Befreiung geben wird.


Aber erstmal zum Beginn von ‚Gotteskinder‘. Wir sehen Lichter auf einer Bühne, viele junge Leute, die die Arme schwenken wie bei einem Popkonzert, hören Gitarrenmusik und Gesang - aber dann: Ein lautes, beschwörendes Amen. Amen. Amen. Wie bitte - das soll in Deutschland sein? Kennt man doch sonst nur aus Amerika. Aber wir sind tatsächlich in der Nähe von Kassel, in einer freikirchlichen Gemeinde und bei einer gläubigen Familie mit vier Kindern. Von außen betrachtet könnte diese Familie auch in einem netten Viertel in einer Großstadt leben. Attraktive Eltern (Mark Waschke und Bettina Zimmermann), ein ansprechendes Haus, vier wohlgeratene Kinder. Aber dieses Bild wird sofort zerlegt, wenn alle zusammen beim Essen sitzen. Klar, es wird gebetet vorher. Aber auch die Tischgespräche sind sofort und ausschließlich beim Thema Kirchengemeinde, Pflichten und Hingabe. So geht es um den anstehenden Ball, bei dem die älteste Tochter Hannah ihr Reinheits- und Keuschheitsgelübde ablegen wird. Kein Sex vor der Ehe. Und ihr Vater wird geloben, sich dafür mit aller Kraft einzusetzen und sie dabei zu unterstützen. Und das tut er. Umfassend und rigoros. Die freundliche, fast liebevolle Fassade in der Beziehung zu den Kindern kann jederzeit umkippen in eine strafende Instanz, wenn sie sich nicht gottesfürchtig verhalten. Indoktrination und patriarchale Struktur sind die Stützpfeiler dieses fundamentalistischen Systems.

Regisseurin Frauke Lodders hat über ein Jahr recherchiert in dieser Szene. Auch undercover. Man muss sich das immer wieder vergegenwärtigen, weil diese Umstände, diese Zustände fast übertrieben zugespitzt und erschreckend wirken. Natürlich geht es nicht in jeder Gemeinde so zu, aber die Handlung beruht auf Aussteiger-Aussagen.

Die beiden ältesten Geschwister Hannah und Timotheus sind als Heranwachsende mit den größten Problemen und Herausforderungen konfrontiert. Hannah, die überaus engagiert und überzeugt ihren Glauben vertritt, trifft auf den neuen Mitschüler Max. Ein Rebell, der nichts mit all dem Sermon zu tun haben will, und sozusagen die ‚ungläubige‘ Perspektive (also auch die von uns Zuschauern) einnimmt. Es ist sehr glaubhaft erzählt, wie diese beiden jungen Menschen aus unterschiedlichen Welten voneinander angezogen sind. Aber es wird keine Romeo und Julia Story daraus. Dazu ist Hannah einfach schon zu sehr und zu lange dieser lückenlosen Überwachung und Indoktrination ausgesetzt. Anders steht es um ihren jüngeren Bruder Timotheus, der sich in seinen Mitschüler Jonas verliebt hat. Ein schwules Gotteskind kann es nicht geben, es ist noch nicht einmal vorstellbar. Das zerreißt diesen sensiblen Jungen, der es seinem gottesfürchtigen Vater unter allen Umständen recht machen möchte. Er sucht ‚Heilung’ in einer Art Seelsorge Bootcamp. Die Szenen im Stuhlkreis mit mehreren Jungen, die von zwei selbsternannten Therapeuten durch perfide Suggestion und Dämonenaustreibung auf den richtigen Weg gebracht werden sollen, sind schwer auszuhalten. Die seelischen und körperlichen Qualen, die inneren Konflikte der Geschwister vermitteln die jungen SchauspielerInnen (Flora Li Thiemann als Hannah und Serafin Mishiev als Timotheus) absolut glaubhaft und überzeugend. Der rebellische Gegenpart Max (lässig und punkig, Michelangelo Fortuzzi) kämpft immer verzweifelter, aber letztlich aussichtslos gegen die fundamentalistischen Strukturen.

Gewalt und Patriarchat, durch die Bibel legitimiert, und von TikTok Influencern unterstützt und angeheizt. Das ist wohl die zeitgemäße Variante der umfassenden Unterdrückung in einem System, das auf Angst und Unterwerfung gründet, aber eben auch Geborgenheit und gläubige Erfüllung verspricht. Und deshalb gibt es auch für Hannah kein Entkommen aus dem ganzen Scheiß, weil das eben ihr Leben ist.


Foto:
©Verleih 
 
Info:  
Filmdaten
Filmgattung Spielfilm
Produktionsland Deutschland
Produktionsjahr 2023
Länge 117 Minuten
Bildformat 2,35:1
Originalprache Deutsch
Sprachfassung OF (Originalfassung)
Untertitel Englisch, Französisch

Stab
Regie, Buch 
    Frauke Lodders

Besetzung

Hannah         FLORA LI THIEMANN 
                     MICHELANGELO FORTUZZI
Timo             SERAFIN MISHIEV
Vater            MARK WASCHKE 
Mutter          BETTINA ZIMMERMANN,