legsDie 75. Internationalen Filmfestspiele Berlin, BERLINALE 2025, Wettbewerb Teil 10

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) –  Als in den Siebziger Jahren die große Therapiewelle begann, erschien bald ein Buch mit dem Titel DIE HILFLOSEN HELFER. Darin ging es eben auch um die Berufswahl von Menschen, die selbst mit der Strukturierung ihres Lebens und Arbeitsfeldes Probleme haben, besondern oft therapeutische Berufe ausübten, in denen man qua Amt zuständig ist, die Probleme anderer lösen, weil einem dann die eigenen nicht mehr so dringlich erscheinen und man sie auf die lange Bank schieben kann. Das ist natürlich eine üble These, aber wie alles Übel, ist auch mehr als ein Körnchen Wahrheit darin.

Genau dies ist Inhalt des Films, auf den die Zuschauer recht unterschiedlich reagieren, wie in Berlin anläßlich der Aufführung zu hören und zu sehen war, wobei alle einstimmen, daß die Verkörperung von Linda, Ehefrau, Mutter und Therapeutin im Film, Rose Byrne, eine bewundernswerte Leistung zeigt. Sie ist eigentlich unaufhörlich im Bild und die Kamera ist dicht bei ihr, daß wir die Welt, in der sie lebt und überleben will, ihr sozusagen direkt am Gesicht abzulesen ist. Bei Linda kommt derzeit einiges zusammen. Die Regisseurin sagt dazu, sie habe das mit Absicht überspitzt, aber das gibt es auch im wirklichen Leben, daß verschiedene Probleme gleichzeitig auftreten: daß der Mann weitab vom Schuß arbeitet, das Kind krank ist und einfach nicht gesund wird, die Decke in der Wohnung herunterkommt und die Patienten nicht nur ihre Probleme von ihr gelöst haben wollen, sondern Rose auch noch deren vermißte Kinder suchen muß; daß sie ständig bei ihrem Kollegen ebenfalls Therapiesitzungen absitzt, gehört eigentlich zur Psychohygiene, denn da sollten dann die Probleme angegangen werden, unten denen Rose leidet, aber die im Film vorgeführten Sitzungen sind ein Witz, wenn man es ernst nimmt.

Regisseurin Mary Bronstein verweist auf ihre eigenen jahrelangen Therapiesitzungen, wo Anspruch und Wirklichkeit keine Einheit, sondern ein Gegensatz waren. Aber das wollen wir jetzt nicht so genau nehmen, weil das Psychogramm einer solchen Frau wie Linda viel interessanter ist. Leider erfährt man nicht, welche Krankheit die kleine Tochter hat, die über eine Sonde im Magen ernährt wird. Von Anfang an ist Linda ihre überfordernde Lebenssituation anzumerken. Das ist alles zu viel, vor allem klappt nichts. Das Geschehen kulminiert, als im Wohnzimmer die Decke durchbricht, sich ein großes Loch auftut und wie bei der Sintflut Wassermassen herabströmen. Aha, meint das die Regisseurin mit ‚überspitzt‘? Denn natürlich kommen keine Wasserfälle von der Decke, aber daß es von der Decke regnen kann und die halbe Decke herunterkommt, hat die Redaktion von WELTEXPRESSO im letzten Jahr erlebt. Da war Schluß mit lustig, das ist eines der schlimmsten Sachen, die passieren können, denn das Wasser lag erst lange im Deckengewölbe und schuf sich dann Raum. Das gibt es also wirklich und ist keine Phantasie von Linda, wie diejenigen meinten, die sie für überspannt halten.

Sie ist nicht überspannt, sondern außerordentlich angespannt, weil der Probleme so viele werden und letzten Endes sich keiner verantwortlich fühlt und auch keiner ihr hilft. Als dann eine Patientin ihr Kind vermißt, vergißt Linda ihre eigenen Probleme und tut alles, dies Kind wiederzufinden. Genau diese Verhaltensweise wird ihr aber fast als berufliche Untauglichkeit vorgehalten. Der Film variiert Murphys Gesetz, demnach immer die schlimmste der Möglichkeiten eintritt. Für Linda ist das in dem Zeitraum, in dem wir zusehen, auf jeden Fall so. Ihr wird die Umwelt immer klaustrophobischer, was die Leinwand wiedergibt.

Als alles zu viel wird, fängt sie zu handeln an, wie es eigentlich verboten ist. Sie zieht den Schlauch aus dem Körper ihrer Tochter, dafür braucht sie viele Minuten, der Schlauch ist eben auch neben seiner Realität eine Metapher für das Ende, das nicht kommt und dann unvermutet doch da ist. Das Loch im Bauch wächst einfach zu und die Tochter scheint gesund. Dann ist ihr zuvor abwesender Mann nach Hause gekommen, hat sofort die Handwerker, die ihr den Dienst versagten, zur Reparatur der Decke bewegt, die schon so fertig ist, daß die Familie bald wieder einziehen kann und es geschehen weitere heilsame Dinge.

Wir sehen als letztes Bild, wie oft, in Großaufnahme das Gesicht von Linda, das ganz spitz geworden, hohläugig ist, weil sie sich überanstrengt hat, ausgelaugt ist. Über dem Mitgefühl für die überforderte Linda ist mir ca. 23. 30 Uhr der Schluß entgangen, denn ich sah am nächsten Tag in der Erinnerung nur noch in Großaufnahme ihr Gesicht. Als ich tags drauf Kollegen ansprach, wie denn genau der Schluß gewesen sei, sprachen alle von dem Gesicht, aber in unterschiedlichen Richtungen. Der eine sagte, sie sei in der Psychiatrie gelandet, eine andere verortete sie in einem Sanatorium am Meer, wieder einer, daß sie Mann und Kind verläßt, für eine andere dreht sich die Spirale immer weiter und Linda ist wieder am Anfang des Films, denn es gibt neue Probleme, die sie bei ihrer Struktur genauso wenig bewältigt wie andere und dann gab es Optimisten, die meinten, jetzt sei alles gut.

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Foto:
©Berlinale

Info;
Stab
Regie.  Mary Bronstein
Buch.   Mary Bronstein
Kamera.   Christopher Messina

Besetzung
Rose Byrne(Linda)
A$AP Rocky(James)
Conan O'Brien(Therapeut)
Danielle Macdonald(Caroline)
Ivy Wolk(Diana)
Lark White(Vanessa)
Daniel Zolghadri(Stephen)
Delaney Quinn(Kind)