
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Wenn dies Mädchengesicht ganz lange zu Beginn in Großaufnahme erscheint und ihr Blick tiefgründig, aber völlig selbstvergessen über die Reihen blickt, sie dann den Kopf wendet und die gesamte im Berlinale Palast wirklich riesengroße Leinwand sich mit ihren langen Haaren füllt, ist man verblüfft über die lange Einstellung. Ihr Gesicht mit dem Blick auf uns wird im Film noch öfter gezeigt, dann aber eher in rosa und anderen Farben verfremdet, ebenfalls in langen Einstellungen. Das beeindruckt, auch wenn man nicht weiß, was es soll.
Dies Mädchen namens Marielle (Laeni Geiseler) wird ihrer Familie den Spiegel vorhalten, eigentlich wird sie sogar zum Spiegel selbst. Und das kommt so. Sie hat ihrer Schulfreundin eine Gemeinheit gesagt. Ist doch eine, deren Mutter als Schlampe zu bezeichnen, wo hier doch bürgerliche Verhältnisse herrschen, alle Familien in eigenen Häusern wohnen, wie diese in einem besonders modernen, völlig gesichtslosen Ambiente, teuer, das sieht man, wohnlich ist es nicht. Die Freundin hat auf die Beleidigung hin Marielel geohrfeigt. Und jetzt wird es spannend, denn in der Folge kann Marielle auf einmal alles hören, was ihre Eltern oder andre Leute ganz woanders sagen. Sie kann das wiedergeben, memorieren, denn sie merkt sich alles und als erstes sagt sie ihrem Vater Tobias (Felix Kramer) beim Mittagessen, daß er die Unwahrheit spricht, als er erzählt, da habe in der Redaktionssitzung über den Titel eines neuen Buches ein Jungspund ihn vorführen wollen und sein Titelbild abgelehnt; dem habe er es aber gegeben.
„Stimmt nicht“, sagt die Tochter. Und stimmt nicht, sagt die Mutter Julia (Julia Jentsch), als die Tochter ihr sagt, sie habe mit einem Kollegen geraucht, denn das ist ihr Geheimnis, offiziell raucht sie nicht. Jetzt weiß aber die Mutter, daß die Tochter viel Schlimmeres mitbekommen hat, wofür sie sich nun mit Recht schämt. Sie, die brave Ehefrau raucht nicht nur mit diesem Kollegen, sondern hat mit ihm verbalen Sex, oder wie soll man dazu sagen, wenn eine Wörter in den Mund nimmt, die sie sich selber nicht verzeihen kann, wenn sie nun weiß, daß die Tochter das gehört hat. Peinlich und mehr und vor allem lauter Worthülsen, mit denen sich die zwei am Fenster rauchend da gegenseitig aufgeilen. Das wirkt, als ob das schon eine Weile so geht.
Alles fliegt jetzt auf, aber lange glauben die Eltern an technische Lösungen, daß Marielle Abhöranlagen eingebaut hat oder über die eigenen Handys spioniert, doch wird den Eltern endlich klar, daß die Tochter zwar zu Hause abhören könnte, aber nicht an den Arbeitsorten der Eltern.
Die Situationskomik ist enorm, denn es lassen sich aus der Tatsache, daß Marielle alles mitbekommt, ob sie will oder nicht, natürlich herrliche Leinwandscherze herstellen.
Hauptziel wird also für die Familie, daß Marielle ihre übersinnlichen Fähigkeiten wieder verliert. Das will sie selbst auch, denn es ist furchtbar, was sie nun alles mitbekommt. Also kommt die Familie auf die Idee, daß sich die Freundin und Tochter der guten Bekannten bei Marielle entschuldigen soll für die Ohrfeige. Vielleicht wird Marielle dann wieder normal. Die Szene ist wirklich gelungen, denn der Vater erwartet von dem fremden Mädchen eine Entschuldigung für die Backpfeife, doch diese wartet auf eine Entschuldigung von Marielle. Schließlich wird diese so hingenuschelt. Aber es ändert sich nichts.
Wirklich witzig, weil typisch, dann die Szene zu Hause. Die Eheleute beschließen, der Tochter eine heftige Ohrfeige zu verpassen, damit sie der Fähigkeit, alles zu hören, wieder verlustig wird. Klar, das muß der Vater machen, Männer sind für Gewalt zuständig. Der Vater versucht es, aber er kann seiner Tochter einfach keine ballern, was man sofort versteht und auch, daß die Mutter mal wieder ran muß, wenn Väter versagen; die schlägt zu, keine Wirkung und schlägt erneut ganz heftig und schon klappt es, die parapsychologische Mithörerei ist verschwunden.
Im Film geht es verbal zu wie in einer französischen Komödie. Es wird unaufhörlich geplappert, aber durchaus sinnreich im Kontext. Es werden sich von den Eheleuten Dinge an den Kopf geworfen und auf einmal herrscht eine Wahrheit, die zwar weh tut, aber mit dem Ehepaar, wie es so heißt, was macht. Sie machen weiter, aber besser.
Daß der Regisseur eine Schablone an die andere setzt, ist im Sinne der Vorlage konsequent, denn er beschreibt ein bestimmtes Milieu, nicht psychoanalytisch genau die handelnden Personen. Er will etwas Bestimmtes vorführen, was entfremdete Familien sich antun. Das gelingt ihm. Dazu gehört die Lieblosigkeit, mit der das Haus eingerichtet ist, teuer, aber Kälte verbreitend. Und dazu gehört auch die ständig Rotwein trinkenden Eheleute, von denen wir nicht wissen, wie es weitergeht, wenn die neue Wahrheit gelebt werden soll.
Foto:
©Berlinale
Info:
Stab
Regie Frédéric Hambalek
Buch. Frédéric Hambalek
Kamera Alexander Griesser
Besetzung
Julia Jentsch(Julia)
Felix Kramer(Tobias)
Laeni Geiseler(Marielle)
Mehmet Ateşçi(Max)
Moritz Treuenfels(Sören)