
Anne-Claire Cieutat
Paris (Weltexpresso) - ES GIBT NOCH ANDERE KONTRASTE IM FILM, WIE ZUM BEISPIEL DEN ZWISCHEN DER OFT ÜBERLADENEN UMGEBUNG VON CHARLES AZNAVOUR UND SEINEM RÜCKZUG ZU SICH SELBST, DER SICH IMMER EINSAMER ANFÜHLT.
Mehdi Idir: Ab dem Moment, in dem Charles das Schreiben entdeckt, findet ein Umschwung statt. Er ist wie ein Superheld, der sich seiner Macht bewusst wird. Von da an taucht er so sehr in seine Welt ein, dass er seine Umgebung vergisst. Ich muss zugeben, dass ich mich in diesem Verhalten sehr wiedergefunden habe.
Grand Corps Malade: Diese Einsamkeit hängt auch mit seiner ständigen Suche zusammen, die wir nachvollziehen wollten. Auch Tahar Rahim hat versucht, diese dunklere Seite des Charakters zu ergründen und hat uns viel zu diesem Aspekt befragt. Auf dieser Suche konnte Charles niemand folgen, nicht Pierre Roche, nicht Edith Piaf, nicht einmal seine Familie.
Mehdi Idir: Es erzählt auch davon, dass nichts im Leben festgeschrieben ist. Man kann begleitet werden und dann allein sein oder umgekehrt. Sein Leben besteht aus Kontrasten. Der einzige Mensch, der dauerhaft an seiner Seite bleibt, ist seine Schwester. Die beiden standen sich extrem nahe und als Kinder wurden sie sogar für Zwillinge gehalten. Die Beziehung zu seiner Schwester ist der rote Faden des Films, der ihn eröffnet und abschließt.
SIE GEBEN DER FIGUR DES PIERRE ROCHE, DIE HEUTE NUR NOCH WENIGEN BEKANNT IST, VIEL RAUM.
Mehdi Idir: Wir lieben diesen Charakter, der eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Charles gespielt hat. Bastien Bouillon ist über sich hinausgewachsen. In seiner Stimme, seinen Gesten und seiner Körperhaltung ist er der Pierre Roche unserer Träume.
Grand Corps Malade: Er ist auch eine Figur, die es ermöglicht, in das Drama einen Hauch von Komik einzubringen, was allen unseren Filmen eigen ist. Vor allem seine Vorliebe für Frauen bringt einen zum Schmunzeln.
IN EINER SEHR SCHÖNEN SZENE ZEIGEN SIE, WIE CHARLES AZNAVOUR EINEM TRAVESTIEKÜNSTLER BEIM SINGEN ZUSIEHT. DAS IST DIE GEBURTSSTUNDE DES LIEDES „COMME ILS DISENT“.
Grand Corps Malade: Charles Aznavour beobachtete die Menschen und war in der Lage, Details zu erkennen, die er universell nutzbar machen konnte. Die Stärke von „Comme ils disent“ liegt darin, dass er über Homosexualität spricht, indem er die Geschichte eines Mannes erzählt. Charles war einer der ersten, der einen Chanson über dieses Thema schrieb, und dieses Lied sorgte später für Diskussionen. Viele seiner Texte handeln von der Liebe, und jedes Mal findet er einen Winkel, ein Detail, das er hervorhebt, die oft sehr berührend sind.
Mehdi Idir: Je mehr er an diesem Sinn für Details arbeitete, desto näher fühlten sich die Menschen ihm. Er war sehr gut darin, die Realität zu beschreiben. Er konnte „ich“ sagen, seinen Texten Substanz verleihen und die Herzen von Menschen auf der ganzen Welt berühren. Dies rührte von seiner scharfen Beobachtungsgabe her.
ABGESEHEN VON DEN DREHARBEITEN ZU FRANÇOIS TRUFFAUTS „SCHIESSEN SIE AUF DEN PIANISTEN“ ZEIGEN SIE SEINE ARBEIT FÜR DAS KINO NICHT.
Mehdi Idir: Charles Aznavour hat in etwa 50 Filmen mitgewirkt, aber bei der Dichte all dessen, was wir erzählen wollten, mussten wir uns festlegen und zusammenfassen. SCHIESSEN SIE AUF DEN PIANISTEN ist der bekannteste Film mit ihm. Diese Szene ist ein kleiner Fingerzeig, denn Truffaut verkörpert hier das Kino auf symbolische Weise.
WAR TAHAR RAHIM VON ANFANG AN IHR FAVORIT FÜR DIE ROLLE DES CHARLES AZNAVOUR?
Mehdi Idir: Wir haben früh mit der Arbeit am Casting begonnen, da es viele Rollen zu besetzen gab und wir Schauspielerinnen und Schauspieler finden mussten, die echten Menschen körperlich ähnelten. David Bertrand, unser Casting-Director, flüsterte uns die Idee von Tahar Rahim ein, mit dem wir übrigens eng befreundet sind. Tahar schaute uns zunächst entgeistert an. Er sah sich dann aber tagelang Dokumentarfilme und Interviews an, und rief uns zurück, um uns mitzuteilen, dass er glaube, die richtige Stimme zu finden, und dass er dabei sei. Dann war da noch die Frage des Alters. Wir führten für die ersten Szenen Verjüngungstests durch, die sehr gut funktionierten. Tahar nahm sofort Gesangs-, Tanz- und Klavierunterricht, um der Figur so gerecht wie möglich zu werden. Wir ließen ihn jeden Schritt des Drehbuchs lesen und besprachen mit ihm jede Szene. Es war das erste Mal, dass er und wir auf diese Weise arbeiteten. Tahar schlug uns bestimmte Spielweisen vor, die die Farbe unserer Szenen beeinflussten. So gingen wir Hand in Hand voran.
Grand Corps Malade: Tahar hat sowohl Talent als auch eine chamäleonartige Seite, die ideal für diese Rolle ist und die wir zum Beispiel in der Serie „Die Schlange“ beobachten konnten. Wir wussten, dass er auf der Leinwand nicht wiederzuerkennen sein kann, dass er seine Sprache und seine Gestik verändern kann. Nur wenige Schauspieler sind in der Lage, sich selbst so sehr zu vergessen, um eine Figur zu verkörpern. Seine Leistung´war beeindruckend: Tahar sprach vor den Dreharbeiten monatelang wie Aznavour, nonstop, auch mit seiner Familie und seinen Freunden! Er hat der Figur Menschlichkeit verliehen und sie liebenswert gemacht, selbst wenn er seine Familie vernachlässigt, denn Tahar hat sie mit all ihren Fehlern und ihrer Zerbrechlichkeit verkörpert.
WIE HABEN SIE SICH DIE WEITERE BESETZUNG VORGESTELLT?
Mehdi Idir: Neben Tahar Rahim und Bastien Bouillon, von dem wir bereits gesagt haben, wie ideal er für die Rolle des Pierre Roche ist, suchten wir nach weiteren professionellen Schauspielern, die noch etwas unbekannter waren. Wir haben ein langes Casting durchgeführt, um diese namhaften Rollen zu finden.
Grand Corps Malade: In der Rolle der Edith Piaf hat uns Marie-Julie Baup beeindruckt. Wir hatten sie in ihrem Theaterstück „Oublie-moi“ spielen sehen. Die Herausforderung war groß: Sie musste aus dem Schatten von Marion Cotillard treten, und sie schaffte es, die Piaf auf ihre Weise zu interpretieren, ohne sie zu karikieren. Sie konnte ihr auch den Humor verleihen, der sie auszeichnete, denn Charles erzählte, dass sie immer einen Witz machte. Marie-Julie konnte die Kontraste von Piaf einfangen, die in der Lage war, mit ein und demselben Wort eine Ohrfeige zu geben und eine Liebkosung auszusprechen. Camille Moutawakil, die Aznavours Schwester Aïda spielte, war eine glückliche Entdeckung. Sie verlieh der Figur einer kühnen Frau, die vor nichts Angst hatte und ihren Bruder sehr liebte, eine besondere Note.
Mehdi Idir: Für die Familie war es uns wichtig, Schauspieler mit armenischer Herkunft zu finden. Diese Gemeinschaft musste im Film präsent sein, vor allem im Hinblick darauf, dass Charles mit Tahar Rahim von einem algerischstämmigen Schauspieler verkörpert wurde.
WIE HABEN SIE MIT IHREN DARSTELLERINNEN UND DARSTELLERN GEARBEITET?
Grand Corps Malade: Wir beide lieben es, die Schauspieler anzuleiten. Wir sehen sie immer alle im Vorfeld, auch diejenigen, die nur einen Satz im Film sagen. Wir mögen es, wenn jeder Schauspieler seine Partner vor den Dreharbeiten treffen kann. Das ist geselliger und spart Zeit am Set.
WIE HABEN SIE SICH DIE KULISSEN UND KOSTÜME VORGESTELLT?
Mehdi Idir: Wir hatten ein echtes ChampionsLeague-Team dabei! Bei einem historischen Film wie diesem ist die Recherchearbeit im Vorfeld unerlässlich und setzt voraus, dass nichts dem Zufall überlassen wird. Wie sahen die Vorhänge in den Theatersälen damals aus? Wie wurden sie geschlossen? Man musste sich bei Fachleuten informieren und in Büchern nachschlagen. Dasselbe gilt übrigens auch für die Sprache: Wann hat man angefangen, „Okay“ zu sagen? All diese Fragen mussten wir uns stellen, und wir haben übrigens alle unsere Dialoge einem Historiker vorgelegt. Auch die Kostüme erforderten viel Arbeit. Sie mussten sich mit dem Werdegang der Figuren entwickeln. Charles trägt am Anfang zum Beispiel Kleidung aus Altkleidern, daher sind sie zu weit. Auch jedes Requisit erzählte etwas. Jedes Gewerk hat sehr präzise gearbeitet, damit alles stimmte, und es war sehr bereichernd für uns, mit diesen Profis zusammenzuarbeiten.
Grand Corps Malade: Wir haben sowohl in Studios als auch vor realen Kulissen gedreht. Stéphane Rozenbaum und sein Team haben Kulissen mit beweglichen Wänden gebaut und dabei unsere Kamerabewegungen im Kopf gehabt. Das war ein echter Luxus für uns.
IN EINIGEN SZENEN SIEHT MAN, WIE SIE HINTER DER KAMERA JUBELN. SIE WAGEN PLANSEQUENZEN, SCHWUNGVOLLE BEWEGUNGEN UND GEWAGTE ÜBERGÄNGE. WIE HABEN SIE SICH BEI DER REGIE ENTSCHIEDEN?
Grand Corps Malade: Der Film enthielt viele Auftrittssequenzen und wir wollten Charles Aznavour jedes Mal auf eine andere, originelle Art und Weise filmen. Die stilistischen Entscheidungen sollten den verschiedenen Etappen seiner Karriere entsprechen. Mehdi hat mich oft auf der Bühne gefilmt. Wir wissen, was es bedeutet, vor einem Publikum zu stehen und Lampenfieber zu haben. Mit unseren Aufnahmen wollten wir diese Gefühle wieder aufleben lassen, damit das Publikum sich in die Haut von Aznavour versetzen kann.
Mehdi Idir: Schon beim Schreiben hatten wir im Kopf, wie wir die Sequenzen filmen würden. Da wir viele Musikvideos gedreht haben, waren wir geübt, aber hier verfügten wir über die nötigen Mittel, um die Umsetzung spektakulär zu gestalten. Als sich Aznavours Karriere weiterentwickelte, mussten wir abwägen, wie weit wir uns von der Figur entfernen sollten. In der entscheidenden Szene von „J'me voyais déjà“ wollten wir sie zum Beispiel in einer Plansequenz drehen. Sie sollte zuerst die Unsicherheit der Anfänge und dann den Erfolg erzählen, alles in einer einzigen Einstellung. Hier haben uns unsere Aufnahmen und Clips geholfen. Wir haben zum Beispiel die Spidercam verwendet, mit der Fußballspiele oder Konzerte gefilmt werden, und die es uns ermöglicht hat, die gewünschten Bewegungen für bestimmte Sequenzen zu machen.
Grand Corps Malade: Wir wollten vor allem so nah wie möglich an unseren Schauspielern sein. Die Form sollte nicht über den Inhalt gestellt werden. Wir wollten einen schönen, ansprechenden Film mit spektakulären Szenen machen.
WIE HABEN SIE MIT LICHT UND FARBGEBUNG GEARBEITET?
Grand Corps Malade: Wir mussten darauf achten, jedes Kapitel zu differenzieren und eine Weiterentwicklung spürbar zu machen. Am Anfang dominieren die Brauntöne: Wir zeigen ein schmutziges Paris, denn in den 1930er Jahren war dort keine einzige Wand sauber! Während des Krieges bleiben die Farben dunkel und Grün setzt sich durch, dann kommt Rot hinzu. Die Farben ändern sich mit den verschiedenen Kapiteln in Aznavours Leben, das von Armut zu Reichtum führt.
Mehdi Idir: Bei den Bildern wollten wir eine besondere Körnung. Wir haben uns mit vielen Kameraleuten getroffen und uns für Brecht Goyvaerts entschieden. Er hatte an der Serie „Paris Police 1900“ gearbeitet und sein Bild hatte uns begeistert. Brecht ist wahnsinnig talentiert.
INDEM MAN SEINEN WEG ALS IMMIGRANT ERZÄHLT, ER, DER SPÄTER FRANKREICH IN DER GANZEN WELT VERTRETEN HAT; INDEM MAN AN SEINE VERTEIDIGUNG VON HOMOSEXUELLEN UND VON ZURÜCKGELASSENEN ERINNERT, IST DIESER FILM NICHT AUCH EINE POLITISCHE GESTE IHRERSEITS?
Grand Corps Malade: Das ist das Spannende an Charles: Er ist nie offiziell einer Partei beigetreten, und doch hat er in seinem Werk Stellung bezogen, wie z. B. „Ils sont tombés“ oder „Comme ils disent“ belegen. Für uns ist es zwangsläufig eine politische Geste, den Film mit diesen Bildern des Völkermords zu beginnen und ihn mit der Stimme von Nachrichtensprecherin Claire Chazal zu beenden, die betont, dass Aznavour, der Sohn von Einwanderern und Staatenlosen, zu einem der Symbole der französischen Kultur geworden ist. Dieser Satz ist nicht der Kommentar eines Journalisten, den wir übernommen haben, er stammt von uns und wir haben Claire Chazal, die so viele Jahre lang zu so vielen Franzosen gesprochen hat, gebeten, ihn vorzulesen.
Foto:
©Verleih
Stab und Besetzung
Ein Film von MEHDI IDIR & GRAND CORPS MALADE
CHARLES AZNAVOUR Tahar Rahim
PIERRE ROCHE Bastien Bouillon
EDITH PIAF Marie-Julie Baup
AÏDA Camille Moutawakil
MISCHA Hovnatan Avedikian
RAOUL BRETON Luc Antoni
MICHELINE RUGEL. Ella Pellegrini
Frankreich 2024
134 Minuten
FSK: tba
Kinostart: 22. Mai 2025
Abdruck aus dem Presseheft