Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 29. Mai 2025, Teil 6
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - „WAS IST AITA? Die Aita ist ein Kampfgesang und gesungene Poesie. Sie ist Ausdruck von Mut, Leidenschaft, politischer Haltung, Widerstandskraft und Selbstbehauptung. Entstanden im 19. Jahrhundert, wird sie mündlich und regional unter Sheikhas weitergegeben und steht in der Gegenwart am Scheideweg zwischen vergangener Tradition und emanzipatorischer Anpassung an neue Rollenbilder einer neuen marokkanischen Generation.“
Diese Aita spielt in diesem Film die Hauptrolle und die wilde, unabhängige Touda (Nisrin Erradi) ist ihre stimmliche Verkörperung. Sie „ träumt nur von einem: eine Sheikha zu werden; eine angesehene, traditionelle marokkanische Künstlerin, die ihre Kraft aus Texten früherer, kämpferischer Dichterinnen schöpft.“ Sie ist also die Verkörperung der musikalischen Ideen. Wir lernen sie zu bewundern, denn Touda hat dramatisch viele Widernisse zu überstehen, um eine Sheikha werden zu können.
Doch der Film beginnt erst einmal mit ihren umjubelten Auftritten und ihre Bühnenpräsenz ist so umwerfend, dass man noch im Kinosessel hingerissen ist, von der Stimme, der sinnlichen Musik und ihrem Hüftschwung. Sie singt in kleinen Etablissements, da sind Bars, dort offene Bühnen in Dörfern, wo sie auftritt und – sofort den Rahmen sprengt. Und auch uns in der gleichen Weise sofort hypnotisiert. Mit ihrem Gesang, mit dem sich die ganze Person wandelt, die Frau wird so was von schön, sinnlich war sie schon zuvor, aber mit den schmelzenden Tönen und dem Winden des Körpers löst sie bei der Zuschauerin im Kino eine Faszination aus, die lange trägt und auch noch anhält, wenn der Film ihr Leben in den Mittelpunkt stellt, das das Gegenteil von Glamour ist. Davon später mehr.
Die Begeisterung, die ihre dörflichen Bühnenauftritte auslösen, gehen immer wieder in eine sexistische Richtung. Marokko ist wie alle diese muslimischen Länder ein Männerland! Zu Hause geben die Frauen den Ton an, aber es gibt leider nicht wenige, Frauen und Männer, die meinen, die Frau gehöre nur ins Haus. Während Touda von der Freiheit der Frau singt und welche Möglichkeiten sich für diese ergeben, wenn man sie nur läßt, sehen wir die Blicke der Männer, die sie nicht nur abtasten, sondern sie zum Sexobjekt machen. Befriedigung von Männern ist faktisch das Ergebnis, erst nur beim Zusehen und dann – der Film zeigt es – eine Gruppenvergewaltigung von jungen Männern, die sich an ihren Auftritten aufgeilten und im nahen Wald zur Tat schreiten. Das ist furchtbar und auch furchtbar anzusehen. Aber am Schlimmsten ist, wie gefaßt Touda dies übersteht. Ist ihr das nicht das erste Mal passiert? Andererseits ist ihre äußere Nonchalance in der dortigen Männergesellschaft vielleicht gerade die richtige Reaktion.
Das ist also keine Situation, wo man die Beschädigung, die Schmerzen, als Objekt erniedrigt zu werden, durch innere Nabelschau psychologisch verarbeiten kann. Da ist es einfach besser, tief durchzuatmen, diese Typen kräftig zu verachten und einfach weiterzumachen. Aber dennoch fragt man sich, woher diese Freiheit, auf der Bühne eine richtige singende Frau sein zu dürfen, kommt. Kommt die Aita, kommen die Sheikas aus der Wüste, sind sie im Ursprung Nomaden? Leider erfahren wir darüber ncihts.
Auf jeden Fall geht Touda diesen Weg. Sie hat ja ein Ziel, sie hat sogar zwei Ziele. Davon, eine richtige Sheikha zu werden und die Aita kunstvoll singen zu können, haben wir nun betont, aber es gibt einen zweiten Grund, ein weiteres Ziel, ihr eigentliches Lebensmotto: Sie will alles tun, um ihrem gehörlosen Sohn ein erträgliches Leben zu bieten, wozu gehört das er Gebärdensprache erlernen soll, das Fingeralphabet, das ihn fähig macht, mit allen anderen zu kommunizieren. Doch diese Sprache kann man nur in Casablanca erlernen. Und die Hauptstadt hat für Touda noch einen weiteren Reiz. Sie kann dort als Sheika dazulernen und gleichzeitig auftreten und sich so Geld verdienen. Denkt sie zumindest. Also fährt sie zum Hof ihrer Eltern, die einige Tiere und Landwirtschaft betreiben, wo sich ihr Sohn sehr wohl fühlt, geliebt und verstanden von den Großeltern, weshalb ihm das Fortfahren gar nicht so leicht fällt, aber er ist zusammen mit seiner Mutter.
Doch in Casablanca wird es viel schwieriger , als gedacht. Touda muß lernen, dass nicht alle die Aita so lieben wie sie. Sie muß sich bei Auftritten gegen lächerliche Popsängerinnen behaupten, die Krawallmusik übertönt die lyrischen Melodien, die sie weiterhin vorträgt. Doch sie setzt sich zur Wehr, so lange, wie sie nun einer weitere, ganz andere Entscheidung trifft. Nachdenklich verläßt man das Kino.
Foto:
©Verleih
Info:
Stab
REGIE: NABIL AYOUCH
DREHBUCH: NABIL AYOUCH
MARYAM TOUZANI
Besetzung
TOUDA: NISRIN ERRADI
YASSINE: JOUD CHAMIHY
RKIA: JALILA TLEMSI
GEIGER: EL MOUSTAFA BOUTANKITE
LIEBHABER: LAHCEN RAZZOUGUI
PRODUKTIONSLAND: FRANKREICH, MAROKKO, BELGIEN, DÄNEMARK, NIEDERLANDE, SPRACHEN: ARABISCH
FRANZÖSISCHE ORIGINALVERSION
DEUTSCHE SYNCHRONISATION
UNTERTITEL: DEUTSCH | ENGLISCH | FRANZÖSISCH | BARRIEREFREI
TONFORMAT: 5.1 SURROUND
BILDFORMAT: 1:1:85