
Emilie Blichfeldt
(Weltexpresso) - Märchen leben von klarer Charakterzeichnung. Es gibt die Reinen und Guten und die unverbesserlich Bösen. Wir fühlen natürlich mit Aschenputtel mit und verteufeln die Stiefmutter und -schwestern sehr schnell. In der Version der Gebrüder Grimm werden die Stiefschwestern zwar als böse, aber gutaussehend beschrieben. Walt Disney, der sich an Charles Perraults französischer Version orientierte, verbreitete die Vorstellung, dass innere und äußere Schönheit intrinsisch miteinander zusammenhängen – Freundlichkeit gehört zu den Schönen, während Hässlichkeit von Grausamkeit zeugt.
Die Stiefschwestern werden für ihre großen Nasen, Füße und den Irrglauben, den Prinzen für sich gewinnen zu können, verspottet.
Als Kind teilte ich diese Ansicht. Ich wollte Aschenputtel sein und über die Tollpatschigkeit der Stiefschwestern lachen. Aber nachdem ich die Grimm‘sche Version als Erwachsene noch einmal gelesen hatte, insbesondere die Stelle, als sich eine Stiefschwester die Zehen abschneidet, um in den Schuh zu passen, änderte ich meine Meinung. Zum ersten Mal empfand ich Mitleid für sie und ihre Verzweiflung. Der Spott und das kalte Lachen auf ihre Kosten fühlten sich ungerecht an. Auch ich selbst habe mich danach gesehnt, von jemandem begehrt zu werden – ob nun von einem Prinzen oder einem festen Freund – und habe schmerzhaft gespürt, wie es ist, den unmöglichen Schönheitsstandards nicht zu entsprechen. Egal, wie sehr ich versuchte, mich einzugliedern, ich konnte niemals in Aschenputtels Schuh passen, weil ich ebenfalls eine Stiefschwester bin.
Diese Erkenntnis führte zum Bedürfnis, die Geschichte aus einer neuen Perspektive zu erzählen. Ich wollte allen Charakteren Leben einhauchen und sie von ihren starren Archetypen befreien. Aschenputtel verkörpert nicht nur ein Ideal; sie ist ein Mädchen mit Geheimnissen, die weder die Gebrüder Grimm, noch Perrault, noch Disney bisher erzählt haben. Gleichzeitig wollte ich nicht einfach nur die Geschichte in ihr Gegenteil verkehren, die Stiefschwester zur Heldin und Aschenputtel zur Übeltäterin werden lassen. Stattdessen habe ich mich um Fairness bemüht.
Durch die soziale und wirtschaftliche Brille der Vergangenheit betrachtet, werden die unvernünftigen Handlungen der Märchenfiguren verständlich. Für Frauen war es oft überlebenswichtig, einen Ehemann zu finden, um sozial aufsteigen zu können. Das Aussehen war ihr wichtigstes Gut, und eine gescheiterte Ehe war eine Katastrophe. Trotz dieser Umstände träumten viele von Romantik und zufälligen Begegnungen, in denen die Sehnsucht nach sozialem Aufstieg und wahrer Liebe zu einer höheren Einheit verschmolzen. Ich wollte diese Komplexität bei der Neuinterpretation des Märchens berücksichtigen.
Die Geschichte der Stiefschwester wurde zu lange missachtet und verdient es, als aussagekräftiger Kommentar zu den belastenden Normen, die uns noch immer prägen, anerkannt zu werden. Ich habe diesen Film für die kleine Emilie gemacht, die große Füße und wenig Selbstvertrauen im Umgang mit Jungen hatte. Ich habe diesen Film für all die jungen Mädchen gemacht, die mit der Last kämpfen, sich hässlich zu fühlen, aber ich hoffe, dass dieser Film weit darüber hinausgeht, denn die Fragen, die er aufwirft – danach, was schön ist und wer darüber entscheidet – gehen uns alle an. Indem wir mit Aschenputtel mitfühlen, uns aber über die Stiefschwester lustig machen, werden wir getäuscht und verraten uns selbst. Es gibt nur ein Aschenputtel. Der Rest von uns, die darum kämpfen, in den Schuh zu passen, sind Stiefschwestern.
Die Entdeckung von Lea Myren
Da wir es mit einem Märchen zu tun haben, suchte ich nach Schauspielerinnen und Schauspielern mit großer emotionaler Bandbreite, die in der Lage sind, ihre Rollen mit einer Portion Absurdität und überzogenem Gefühlsausdruck zu spielen, ohne dass die Figuren dabei ihre Bodenhaftung oder Menschlichkeit verlieren. Ich gehe immer völlig unvoreingenommen an ein Casting heran. Ich habe keinerlei Vorstellungen, wie die Charaktere aussehen sollen. Für mich entsteht dieses Bild erst während des Vorsprechens durch die Interpretationen der Darstellerinnen und Darsteller. Der Casting-Prozess für die Hauptrollen war eine Herausforderung – bis plötzlich die richtigen Leute auftauchten.
Die herausragende Entdeckung war, wenig überraschend, Lea Myren als Elvira, die Stiefschwester. Schon bei ihrem ersten Vorsprechen war ich gefesselt; zum ersten Mal konnte ich Elvira wirklich sehen. Leas unprätentiöse Körperlichkeit, ihr präzises komödiantisches Timing und ihre unerschütterliche Hingabe ließen sie sofort als die perfekte Besetzung erscheinen. Aber was für ein Geschenk sie ist, wurde mir erst später klar. Ihre furchtlose und aufrichtige Darstellung von Elvira – die sich zwischen Unschuld und Träumen bewegt und in Wahnsinn, Schmerz und sogar viszeralen Momenten wie Erbrechen abtaucht – ist unvergesslich und bahnbrechend. Lea verkörpert all das, was ich mich als junge Frau gern getraut hätte zu sein, frei von den Zwängen des Kampfes um das Körperbild. Sie ist nicht nur ein unglaubliches Talent, sondern auch ein Hoffnungsschimmer für zukünftige Generationen von Frauen und Mädchen.
Die Musik von THE UGLY STEPSISTER
Bei der Musik zum Film orientierte ich mich an ikonischen 70er-Jahre-Soundtracks wie „Bilitis“ von Francis Lai aus dem Film LOVE STORY (1970), der Band Goblin aus SUSPIRIA: IN DEN KRALLEN DES BÖSEN (Suspiria, 1977) oder auch Harold Budd aus JERRY MAGUIRE: SPIEL DES LEBENS (Jerry Maguire, 1996). Den Mix aus Harfe, Synthesizer und Pauke hatte ich mir von Anfang an so vorgestellt und unser Komponist Kaada erweckte sie meisterhaft zum Leben. Kurz vor der Vollendung der letzten Schnittfassung stellten meine Cutterin Olivea Neergaard-Holm und ich fest, dass dem Film etwas Zeitgenössisches fehlte – ein Element, das ihn im Hier und Jetzt verortet. Wir haben eigentlich versucht, jegliche Anachronismen zu vermeiden (auch wenn kieferorthopädische Zahnspangen kaum in die Epoche gehören, die im Film dargestellt wird). Aber dem Film hat eine gewisse ironische Ebene gefehlt, die es dem Publikum ermöglicht, nicht nur die Charaktere, sondern auch die erzählerische Präsenz zu verstehen. Ich mag es, mich beim Filmschauen in den Charakteren zu verlieren und gleichzeitig eine Verbindung mit der Person zu spüren, die die Geschichte erzählt. Wir haben die norwegische Künstlerin Vilde Tuv und ihr Album „Melting Songs“ entdeckt und waren sofort hin und weg. Es verkörperte die Essenz einer hoffnungslos romantischen jungen Frau perfekt – hart und doch verletzlich, ironisch und zugleich von einer tiefen Ernsthaftigkeit. Vilde komponierte zwei Stücke für den Film, die nahtlos an Kaadas Arbeiten anschließen. Zusammen haben sie dem Film etwas Überraschendes und Zeitloses geschenkt, wodurch er aus der Masse heraussticht.
ÜBER DIE REGISSEURIN EMILIE BLICHFELDT
Die norwegische Regisseurin und Autorin Emilie Blichfeldt widmete sich bereits in HOW DO YOU LIKE MY HAIR? (2013), einem ihrer ersten Kurzfilme, der Frage nach dem Wesen von Schönheit. Ihr Abschlussfilm an der Norwegian Film School, SARA’S INTIMATE CONFESSIONS (Saras intime betroelser, 2018), lief unter anderem auf dem Locarno International Film Festival und dem Clermont-Ferrand International Short Film Festival. THE UGLY STEPSISTER (Den Stygge Stesøsteren) ist Emilie Blichfeldts erster abendfüllender Spielfilm.
Foto:
©Verleih
Info:
The Ugly Stepsister (Norwegen, Schweden, Polen, Dänemark 2025)
Genre: Märchen Verfilmung, Body-Horror, Tragikomödie
Filmlänge: ca. 105 Min.
Regie: Emilie Blichfeldt
Drehbuch: Emilie Blichfeldt
Darsteller: Lea Myren, Thea Sofie Loch Næss, Ane Dahl Torp, Flo Fagerli, Isac Calmroth, Malte Gårdinger, Ralph Carlsson, Isac Aspberg, Albin Weidenbladh, Oksana Czerkasyna, Katarzyna Herman, Adam Lundgren, Willy Ramnek Petri u.a.
Verleih: capelight pictures
FSK: ab 16 Jahren
Kinostart: 05.06.2025
Abdruck aus dem Presseheft