Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 18. September 2025, Teil 4
Edgar Reitz
Berlin (Weltexpresso) – Wenn man einmal begonnen hat, sich mit Leibniz zu beschäftigen, begegnet er einem überall. Das Geheimnis seiner Universalität ist, dass er sich mit den fließenden Übergängen von allem zu allem befasst. Die Faszination der Übergänge zu entdecken, ist der entscheidende Auftrag der Philosophie von Leibniz, zum Beispiel der Übergang vom Krieg zum Frieden, vom Denken zum Machen, vom Traum zum Wachsein, vom Lauten ins Stille, vom Schmerz zum Glück.
Meine jahrelange Beschäftigung mit Leibniz hat auch mein ästhetisches Verständnis für den Film geprägt und meinen Blick auf die Übergänge gelenkt. Denn das ist genau das, was uns in der heutigen Weltsicht fehlt. Alles verschanzt sich im Spezialistentum, in Meinungsblasen, in Feindbildern, in Selbstgerechtigkeiten, Hass, Glaubensgemeinschaften oder Fanatismus. Nach Leibniz liegen die Lösungen aber in den Übergängen, den Berührungszonen, die es zwischen Allem und Jedem gibt. Auch das Kino kann eine Zone der Übergänge sein, ein Ort, an dem wir träumend das Denken neu entdecken und verstehen, dass nichts so ist, wie es scheint und dennoch existiert.
Mein Leibniz-Film erzählt eine Geschichte, in der fast alles historisch belegt werden kann und dennoch fiktiv ist. Es ist überliefert, dass die preußische Königin Sophie Charlotte den großen Universaldenker seit ihrer Jugend verehrte und sehnsüchtig nach der Nähe seines Geistes verlangte. Ihre unmögliche Liebe soll durch ein Bildnis von Leibniz Erfüllungfinden, mit dem sie in ihrem Berliner Schloß Charlottenburg täglich Zwiesprache halten will. Mit meinem Co-Autor, Gert Heidenreich, hatte ich in zehn Jahren ein Drehbuch nach dem anderen über Leibniz entworfen und habe immer wieder gegenüber der Spannweite des Lebensentwurfes von Leibniz kapituliert. Erst mit der Geschichte vom Philosophen und der Malerin sahen wir uns vor einer überschaubaren Aufgabe, endlich konnte unsere ganze Begeisterung für den Universaldenker zum Ausdruckfinden.Gerade in der Reduktion auf wenige Personen, ein Zimmer und die Entstehung des Gemäldes konnten wir Leibniz lebendig werden lassen.Mit ihm lernten wir,dass es keine Wahrheit der Bilder gibt, es sei denn in der Kunst. Die Kunst lebt in dieser geheimnisvollen Zwischenwelt zwischen Denken und Machen, zwischen Wissen und Nichtwissen, in die unsere niederländische Malerin, Aaltje van de Meer, uns führt. Sie verblüfft Leibniz und uns mit dem Satz: „Was ich nicht weiß, kann ich malen.“
LEIBNIZ ist auch ein Film über das Filmemachen, denn er entstand unter der ständig gestellten Frage: „Was machen die Worte mit den Bildern und umgekehrt, was machen die Bilder mit denWorten?“ Immer hatten wir es auch hier mit den Zwischenbereichen zu tun: dem Licht, den Kostümen, dem Szenenbild auf der einen Seite und der Sprache der Leibniz-Gedanken auf der anderen. Die vielen Worte und Gedanken verwandelten sich im Spiel der Schauspieler in eine lebendige Zwischenwelt, in der nichtstheoretisch blieb. Nie habe ich beim Drehen eines Films ein vergleichbares Vergnügen am Denken gesehen. Alle waren davon erfasst: Team, Schauspieler und Schauspielerinnen, allen voran unser Hauptdarsteller, der im Kraftfeld der drei Frauen, Sophie, Charlotte und der wunderbaren Aaltje, aufblühte. Wir erlebten unseren Film als ein Abenteuer auf engstem Raum. Leibniz findet man - wer hätte das gedacht - zwischen den Zeilen!
Über Edgar Reitz
Edgar Reitz, Regisseur, Produzent und Autor. Geboren 1932 in Morbach/Hunsrück.
Studium der Germanistik, Publizistik und Theaterwissenschaft an der LMU München. Seit Mitte der fünfziger Jahre literarische Arbeiten, Veröffentlichung von Gedichten, Erzählungen und Herausgabe einer literarischen Zeitschrift. Gründung einer Studiobühne. Ab 1957 Dramaturg und Kameramann, Regisseur von Industrie- und Dokumentarfilmen. Mitglied der „Oberhausener Gruppe“, die 1962 den deutschen Autoren-Film hervorbrachte. Mit A. Kluge Gründung des „Institutsfür Filmgestaltung“ an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. An dieser ersten Filmschule der Bundesrepublik Deutschland lehrte Reitz 8 Jahre lang Regie und Kamera, gleichzeitig Gründung der EDGAR REITZ FILMPRODUKTION GmbH, mit der er 1966 seinen ersten Spielfilm realisiert. MAHLZEITEN, 1967 bei den Filmfestspielen in Venedig ausgezeichnet, gehört zu den Debütfilmen, die den Begriff »Junger Deutscher Film" prägen. Es folgen weitere Kino-Spielfilme, Dokumentar- und Experimentalfilme, die international große Beachtung finden und vielfach ausgezeichnet werden. Seit Mitte der siebziger Jahre zahlreiche Veröffentlichungen über Filmtheorie und Filmästhetik, aber auch literarische Fassungen seiner Filme. 1995 Gründung des „Europäischen Instituts des Kinofilms, EIKK“ in Karlsruhe, das er bis 1998 leitet. Seit 1994 Professor für Film an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.
Zu seinen wichtigsten Filmen zählen: MAHLZEITEN, CARDILLAC, DIE REISE NACH WIEN, SCHNEIDER VON ULM, STUNDE NULL und die weltbekannte HEIMAT-TRILOGIE, die sich aus 31 abendfüllenden Einzelfilmen zu einem Jahrhundert-Epos zusammensetzt und mit über 54 Stunden Spieldauer zu den umfangreichsten erzählerischen Werken der Filmgeschichte zählt. 2012 dreht Edgar Reitz DIE ANDERE HEIMAT, eine deutschfranzösische Kino-Koproduktion, die 2013 mehrfach mit dem deutschen Filmpreis LOLA und vielen anderen Preisen ausgezeichnet wird.
Edgar Reitz ist Mitgliedmehrerer Akademien, wie der Akademie der Künste Berlin, der Europäischen Film-Akademie, der deutschen Filmakademie und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Erwurde in der ganzenWeltmit Filmpreisen und Ehrungen ausgezeichnet, darunter der Ehrenpreis der Filmfestspiele von Venedig und der deutschen Filmakademie 2020. Reitz wurde von verschiedenen Universitäten Europas ehrenpromoviert. Er ist „Officier de L’ordre des arts et des lettres“ der République Française, Täger des Großen Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, sowie des Bayerischen Maximiliansordens. 2022 erschien im Rowohlt-Verlag seine Autobiographie.
Edgar Reitz lebt mit seiner Frau, der Sängerin und Schauspielerin Salome Kammer, in München.
Filmographie (Auswahl)
2025 LEIBNIZ – CHRONIK EINES VERSCHOLLENEN BILDES
2024 FILMSTUNDE 23
2013 DIE ANDERE HEIMAT
2006 HEIMAT – FRAGMENTE – DIE FRAUEN
1995 DIE NACHT DER REGISSEURE
1992 DIE ZWEITE HEIMAT
1978 DER SCHNEIDER VON ULM
1978 DEUTSCHLAND IM HERBST
1972 DAS GOLDENE DING
1971 GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND
Foto:
©Verleih
Info:
LEIBNIZ - CHRONIK EINES VERSCHOLLENEN BILDES
Ein Film von Edgar Reitz
Deutschland 2025
Kinostart: 18. September 2025
Laufzeit: 102 Minuten
FSK: ab 6 Jahren
Stab
Regie Edgar Reitz
Drehbuch Gert Heidenreich, Edgar Reitz
Besetzung
Edgar Selge Gottfried Wilhelm Leibniz
Aenne Schwarz Aaltje van de Meer
Lars Eidinger Hofmaler Delalandre
Barbara Sukowa Fürstin Sophie von Hannover
Antonia Bill Königin Sophie Charlotte von Preußen
Michael Kranz Liebfried Cantor
Abdruck aus dem Presseheft