bruder4Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 18. September 2025, Teil 12

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) - Sie verbindet seit Studienzeiten an der ifs Köln eine langjährige Zusammenarbeit mit Hanno Olderdissen. Nach „Rock My Heart“ legen Sie mit GANZER HALBER BRUDER ihren zweiten gemeinsamen Kinofilm vor. Wie kam es dazu? 


CLEMENTE FERNANDEZ-GIL:
Ich habe selbst einen Sohn mit Down-Syndrom und bin dem Thema des Films entsprechend persönlich verbunden. Mir war sehr wichtig, bei der Regie jemanden zu haben, der mir nah ist. Hanno und ich kennen uns so gut, vieles müssen wir gar nicht mehr besprechen. Es gibt viel Selbstverständlichkeit, man kann sich auf das Wesentliche konzentrieren. Hanno ist ein Typ, dem ich das zugetraut habe, das Thema und diese große Aufgabe verantwortungsvoll umzusetzen, mit Gefühl, Menschenkenntnis, Anteilnahme und Empathie.

 

Schlummerte die Idee schon lange in Ihnen?


CLEMENTE FERNANDEZ-GIL: Lange bevor mein Sohn Matti geboren wurde – er ist jetzt 13 Jahre alt –, habe ich zwei Theaterprojekte mit Menschen mit Down-Syndrom gemacht. Das war Zufall. Ich kannte mich also ein bisschen aus. Dann kam Matti auf die Welt und ich dachte: Das Schicksal hat den Richtigen ausgesucht. Ich bin nicht aus allen Wolken gefallen, weil ich wusste, dass die vielen Vorstellungen, die es gibt, wie das Leben mit einem Kind mit Down-Syndrom ist, Quatsch sind. Die Idee, einen Film mit einem Menschen mit Down-Syndrom zu machen, reifte über mehrere Jahre in mir. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie man ihn erzählen würde, als Drama oder als Komödie …Ich tendierte erst mehr Richtung Drama. Dann wurde mir klar, dass ich eine Geschichte erzählen wollte, die alle Menschen erreicht. Im Idealfall auch Menschen mit Beeinträchtigung. Entsprechend bin ich bei der Drehbucharbeit vorgegangen. Der Film ist klassisch linear erzählt. Mir war wichtig, dass auch Menschen mit dem Down-Syndrom dem Film folgen können. Ein inklusiver Film, nicht über, sondern mit und für Menschen mit dem Down-Syndrom. Ein Unterhaltungsfilm im besten Sinne, der aber auch etwas aufzeigen will.

 

Wie sind Sie vorgegangen? 

 

CLEMENTE FERNANDEZ-GIL: Wenn Menschen mit Down-Syndrom filmisch erzählt werden, ist es oft ein Roadmovie. Sie werden herausgeführt aus ihrem Alltag, gehen auf eine Reise. In den seltensten Fällen ist es umgekehrt, dass man als Zuschauer in die Welt von Menschen mit Beeinträchtigung hineinkommt, in den Alltag, die Lebenswelt, die Arbeitswelt. Das wollte ich unbedingt, auch wenn ich wusste, dass da nicht viel passiert, nicht viel Action ist. Deshalb brauchte ich ein actionreiches, auslösendes Ereignis von außen: Thomas bringt das System von Roland mit seiner Biografie und seinen bösen Absichten in Gefahr. Und zwei Dinge wollte ich auf gar keinen Fall: Menschen mit Down-Syndrom als Opfer und als niedliche, lebenslustige Clowns erzählen. Roland ist jemand, der Ecken und Kanten hat, der auch widerspenstig ist. Außerdem treibt mich natürlich die Frage um, was passiert, wenn meine Frau und ich unseren Sohn nicht mehr betreuen können. Dass Menschen mit Beeinträchtigung ihren Erbanteil bekommen, ist gar nicht so einfach. Da muss man einige Dinge beachten. 

 

Was war Ihnen mit Blick auf das Halbe-Brüder-Paar Roland und Thomas wichtig?

 

CLEMENTE FERNANDEZ-GIL: Bei der Konstellation von Thomas und Roland wollte ich grundsätzlich die Frage stellen: Wer hat hier eigentlich den größeren Förderbedarf? Wer ist derjenige, der funktioniert, wer ist dysfunktional? Ich habe das einfach umgedreht. Roland hat ein Haus, einen Job, macht Sport, hat Kontakte. Thomas hat nur Schulden und ist ein Arschloch, will nur Kohle und seinen Vorteil. Gleichzeitig wird aber auch erklärt, woher Thomas’ Charakterzug rührt. Er kennt seine Mutter nicht, ist im Heim aufgewachsen. Da sind die Startbedingungen ins Leben einfach schlechter. Ich wollte den Bogen von jemandem erzählen, der ein Haus haben will, das er zu Geld machen kann, dann aber ein Zuhause und eine Familie bekommt und lernt, Verantwortung zu übernehmen.

 

Mit welchen Herausforderungen waren Sie beim Schreiben des Drehbuchs konfrontiert? 

 

CLEMENTE FERNANDEZ-GIL: Das Drehbuch war wirklich eine Aufgabe, weil es oft gar nicht gut ist, wenn man so nah am Objekt dran ist, das Thema persönlich repräsentiert. Das erschwert die Recherche. Ich wollte besonders akkurat bleiben, alles richtig machen. Wenn man eine extrem hohe Expertise bei einer Sache hat, hemmt das die freie Kreativität. Das hat mich gequält. Die Verantwortung habe ich als sehr viel größer als bei anderen Stoffen empfunden. Die Entwicklung hat lange gedauert, ebenso die Finanzierung des Projekts. 

 

Was mussten Sie bei den Dialogen mit Roland beachten?

 

CLEMENTE FERNANDEZ-GIL: Ich habe die Dialoge von Roland erst so geschrieben, wie ein Mensch mit Down-Syndrom sie sprechen würde. Sie waren teilweise schwer zu lesen. Einfach, um den Leser nie vergessen zu lassen, dass es um einen Menschen mit Down-Syndrom geht. Das habe ich irgendwann wieder weggenommen, beziehungsweise habe den Text dann auf Nico Randel etwas angepasst, als klar war, dass er unseren Roland spielen würde. Ich habe ein paar Dinge rausgenommen, gekürzt, wir haben geguckt, wo seine Affinitäten liegen. Das war aber gar nicht so viel. Das Drehbuch blieb im Großen und Ganzen bestehen. Das war Nico aber auch wichtig. Wenn etwas entschieden wurde im Text, sollte es auch so bleiben. Alle Veränderungen sind eher schwierig, verursachen Verunsicherung. Improvisieren geht nicht. Trotzdem hat es wunderbar funktioniert.

 

War es einfach, den passenden Darsteller für Roland zu finden?

 

CLEMENTE FERNANDEZ-GIL: Wir haben sehr lange gesucht. Wir hatten einen Caster, der auf Menschen mit Beeinträchtigung spezialisiert ist. Der war sicher ein Jahr im deutschsprachigen Raum unterwegs, hat an Theatern geschaut, alle Werkstätten angeschrieben, Kulturinstitutionen, wo Menschen mit Down-Syndrom aktiv sind... Per E-Castings haben wir uns die Kandidaten angeschaut. In Köln kam irgendwann Nico Randel ins Spiel, und da hatte ich sofort ein gutes Gefühl. 


Warum?

CLEMENTE FERNANDEZ-GIL: Aus verschiedenen Gründen. Einmal, weil er die Rolle einfach toll repräsentiert durch seine Präsenz und Körperlichkeit. Dann war es wichtig, jemanden zu finden, der das wirklich möchte und sich nicht überreden lässt, einerseits, um ihn zu schützen, andererseits, um das Projekt zu schützen. Nico wollte das unbedingt. Nico konnte auch gut Text lernen, was ebenfalls eine Voraussetzung war. Mir persönlich war zudem wichtig, dass er die Geschichte durchdringt, versteht, worum es geht. Das hat bei Nico super geklappt, ich habe wochenlang mit ihm am Text gearbeitet. Es stimmten einfach alle Parameter. Der Dreh war dann trotzdem auch unglaublich anstrengend für ihn. Er ist durchaus an seine Grenze gegangen. Aber durch seinen Willen hat er es geschafft.

 

Wie sah die gemeinsame Textarbeit aus?

 

CLEMENTE FERNANDEZ-GIL: Ich habe zunächst alleine mit Nico gearbeitet, dann kam Hanno dazu. Gemeinsam haben wir Szenen geprobt, um eine Art Drehvorbereitung zu erzeugen, damit er dann beim eigentlichen Dreh die nötige Routine und Disziplin mitbrachte. Nico hatte zwar schon Dreherfahrung, aber nicht in einer Hauptrolle mit vielen Drehtagen. Später unterstützte noch eine Coachin, die auch noch während des Drehs dabei war und sich rund um die Uhr um ihn gekümmert hat.

 

Wie haben Sie Hanno Olderdissen beim Dreh erlebt? 

 

CLEMENTE FERNANDEZ-GIL: Hanno hat von Anfang an verstanden, dass man anders arbeiten muss. Dass man sich Freiräume erkämpfen muss, auch gegenüber der Produktion. Es ging nicht ohne ein Quäntchen Mehrzeit. Hanno hat sich darauf eingelassen, und ihm ist es gelungen, diesen Nukleus an Schutzraum, den Nico benötigte, aufrechtzuerhalten. Er hat mit Nico sehr oft wiederholt. Wenn es nicht stimmte, nahm er sich immer die Zeit für eine Erklärungsrunde. Und er probte mit Nico und probte und probte. Dann wurde der Take gedreht und wenn nötig noch mal und noch mal. Das war einfach so.

 

Der wichtigste Spielpartner für Nico Randel war natürlich Christoph Maria Herbst. Wie war der Prozess?

 

CLEMENTE FERNANDEZ-GIL: Es hat sich etwas Interessantes eingestellt. Christoph ist am Anfang mit Nico nicht warm geworden. Es war, überspitzt formuliert, ein bisschen wie die Situation zwischen Thomas und Roland. Das fand ich gut. Nico ist ein sehr eigener und spezieller Charakter mit sehr starker eigener Meinung und Haltung. Christoph wusste das und hat gemerkt, dass die Figur Roland in Gestalt von Nico in diesem Film strahlen wird, weniger die Rolle Thomas. Thomas ist zwar die Hauptrolle, weil die Figur am meisten Transformation durchlebt und am meisten lernen muss. Aber eigentlich ist es Roland. Ich weiß das vom Theater. Sobald die Menschen mit Down-Syndrom auf die Bühne kamen, wurden die anderen alle an die Wand gespielt. Alle haben geguckt, was passiert jetzt? Alle anderen sind vergessen. Das ist in GANZER HALBER BRUDER auch ein wenig so. Christoph Maria Herbst hat das verstanden. Aber es ist eine tolle Rolle. Christoph hat gemerkt, dass viel in Thomas drinsteckt, in dieser Ungewissheit, diesem Roland gegenüber, diesem Enigma von Menschen. 

 

Musik spielt in GANZER HALBER BRUDER eine wichtige Rolle, speziell der Song „Sunny“, der Lieblingssong und Spitzname von Roland, der in verschiedenen Coverversionen erklingt. Was ist der Hintergrund?

 

CLEMENTE FERNANDEZ-GIL: Es ist tatsächlich so, dass Menschen mit Down-Syndrom Musik lieben und bestimmte Lieblingslieder haben. Auf „Sunny“ sind wir irgendwann gekommen. Es ist eine Ode von Bobby Hebb an seinen Bruder, der gestorben war. Das passte gut. So beschlossen wir, das Lied in verschiedenen Variationen unter die Geschichte zu legen. Mal poppig, mal sehr gefühlvoll. Das alles gibt „Sunny“ her. So haben wir es für die verschiedenen emotionalen Zustände im Film genutzt. Es war auch ein schöner Spitzname für Roland, weil er das Lied ständig singt und damit seine Mixtapes erstellt. 

 

Was soll der Kinozuschauer/die Kinozuschauerin mitnehmen von Ihrem Film?

 

CLEMENTE FERNANDEZ-GIL: Im Idealfall ist das ein Mensch, der wegen Christoph Maria Herbst reingeht und rausgeht mit Roland. Im Idealfall lernt er ein bisschen etwas über Menschen mit Beeinträchtigung. Vielleicht lernt er auch, diese Menschen zu akzeptieren und ihnen den inklusiven Raum zu gewähren, den sie beanspruchen möchten. Bei uns in Deutschland gibt es ja dieses abgeschlossene System von Werkstätten und Förderschulen. Menschen mit Beeinträchtigung sind deshalb im Alltag sehr wenig präsent. Wenn der Zuschauer merkt, dass Roland das Recht hat, in dieser großen Villa zu wohnen, weil er ein Mensch wie alle anderen ist, wäre das schon was. Nur weil jemand kognitiv eingeschränkt ist, hat das nichts mit seinen persönlichen Rechten zu tun. Ich wünsche mir, dass die Zuschauer lernen, Menschen mit Beeinträchtigung als ganze, vollständige Menschen zu akzeptieren.

Foto:
©Verleih

Info:
GANZER HALBER BRUDER
Deutschland 2025, 102 Minuten
Regie   Hanno Olderdissen
Drehbuch.  Clemente Ferndandez-Gil
Mit
Christoph Maria Herbst, Nico Randel, Sesede Terziyan, Tristan Seith, Martin Brambach, Michael Ostrowski, Tanja Schleiff, Rudolf Kowalski u.a.

Abdruck aus dem Presseheft