
Redaktion
Paris (Weltexpresso) - “NUR FÜR EINEN TAG” war auch der Titel Ihres ersten fiktionalen Kurzfilms, den Sie 2021 gedreht haben und der 2023 einen César gewann. War es dann ganz natürlich, dessen Sujet auch zu Ihrem ersten Spielfilm auszuweiten?
Nein, das war für mich anfangs alles andere als offensichtlich. Ich glaube, dass jede Geschichte ihre natürliche Länge hat, und ich hatte Angst davor, einen Kurzfilm zu einem Spielfilm zu dehnen, nur um der Sache willen. Es waren eigentlich meine Produzenten - Bastien Daret, Arthur Goisset und Robin Robles von Topshot Films, die diese Idee zum ersten Mal aufbrachten. Damals waren wir noch im Schnitt-prozess des Kurzfilms. Sie dachten, es gäbe genug Material für einen Spielfilm. Ich hatte zwar vor, das Thema Familie zu vertiefen, aber ich war zögerlich. Eines Tages legte mir Dimitri Lucas, mein Koautor ein Buch über Autobahnraststätten auf den Schreibtisch und sagte: „Hier ist dein Schauplatz!“ Ich reagiere sehr stark auf Bilder... Und so haben wir angefangen, das Spielfilmdrehbuch zu schreiben.
Am auffälligsten auf dem Weg vom Kurz- zum Spielfilm ist wohl, dass Ihr Film wesentlich weiblicher geworden ist. Anstelle des charmanten Raphaël, der in sein Heimatstädtchen zurückkommt, das seine Jugendliebe Cécile niemals verlassen hat, ist es nun andersherum…
Als ich den Kurzfilm schrieb, habe ich nicht einmal darüber nachgedacht, dass die Hauptfigur natürlich ein Mann ist. Erst als mich jemand im Nachhinein darauf hinwies, war ich fassungslos. Ich bin eine Frau, ich arbeite für eine feministische Zeitschrift (La Déferlante), und trotzdem habe ich die Hauptrolle instinktiv einem Mann gegeben, obwohl die Geschichte das gar nicht vorsah. Das allein sagt schon viel darüber aus, wie tief das Patriarchat in unseren Gehirnen verankert ist! Als es um den Spielfilm ging, wollte ich Juliette Armanet - die bereits im Kurzfilm die Hauptfigur spielte - eine viel bedeutendere Rolle geben. Die Wahrheit ist, dass das, was ich beleuchten wollte, eigentlich nur aus der Perspektive einer Frau erzählt werden konnte.
Ihre Heldin Cécile, eine 40-jährige kinderlose Frau, karriereorientiert, ehrgeizig und sich der verrinnenden Zeit zutiefst bewusst - ist auf der Leinwand immer noch ziemlich ungewohnt. Was hat Sie an dieser Figur gereizt?
Ich wollte Cécile in diesem ganz besonderen Moment ihres Lebens einfangen, denn mit 40 hat man eine gewisse Ernsthaftigkeit, die man mit 20 oder sogar 30 einfach noch nicht hat. Mit 40 schwanger zu werden, wie es Cécile passiert, ist nicht dasselbe wie mit 30. In gewisser Weise wird alles dramatischer, aufgeladener. Und das Gleiche gilt für die Karriere - eigentlich sollte man mit 40 geerdeter und stabiler sein als in den Dreißigern. Aber wenn sich Zweifel einschleichen, steht plötzlich so viel mehr auf dem Spiel.
Ich finde es auch körperlich schön, 40 zu sein. Ich wollte eine Frau in diesem Alter filmen, weil es eine so bewegende Lebensphase ist. Man hat die Jugend hinter sich gelassen, und doch gibt es noch so viel zu entdecken.
Warum ist die Figur Cécile nicht nur eine Küchenchefin sondern sogar Gewinnerin von „Top Chef“, einer bekannten kulinarischen Realityshow in Frankreich?
Die Idee, sie zur Köchin zu machen, kam eigentlich durch den Schauplatz - das Straßenrestaurant, in dem Cécile aufwuchs, zusammen mit ihrem Vater, der als Koch arbeitete, und ihrer Mutter, die kellnerte. Es ist ein lebhafter, lauter Ort und erinnerte mich an Orte, die ich selbst als Kind kannte – lange Tische, laute Stimmen... Alles sehr weit entfernt von der gedämpften Atmosphäre der Pariser Pariser Restaurants. Meinem Koautor Dimitri Lucas und mir gefiel auch die Idee, dass Vater und Tochter denselben Beruf ausüben - es ist der Kern ihres Lebens, den sie aber auf unterschiedliche Weise angehen.
Und um ehrlich zu sein, lieben Dimitri und ich beide das Kochen. Ich erinnere mich noch an die allererste Staffel von Top Chef, vor fünfzehn Jahren - ich war sofort begeistert. Die Einbeziehung dieses Elements war auch eine Möglichkeit, die Gesellschaft widerzuspiegeln, in der ich lebe und mit der ich mich identifizieren kann, die Welt, in der ich meine Figuren leben lassen möchte. Die Leute sehen fern. Wir sehen fern. Ich sehe nicht ein, warum man das in Filmen ausklammern sollte. Und aus dramaturgischer Sicht vertieft die Tatsache, dass Cécile durch Top Chef öffentliche Anerkennung erlangt hat, den Generationskonflikt mit ihrem Vater - es schafft Spannungen zwischen ihnen.
Im Grunde hat Cécile mit ihrem Berufsweg ihre „Klasse“, ihre Abstammung „verraten“. Ist deshalb das Thema der Rückkehr nach Hause in Ihrem Film so eng mit Schuldgefühlen verknüpft?
Über Schuld habe ich zuerst gar nicht bewusst nachgedacht. Dennoch ist es ein Thema, zu dem ich einen starken Bezug habe. Das zeigt, wie aufschlussreich das Kino auf allen Ebenen sein kann. Die Wahrheit ist, dass ich ständig hin- und hergerissen bin zwischen dem Wunsch, meinen eigenen Weg zu gehen, und dem Bedürfnis, den Werten, mit denen ich aufgewachsen bin, treu zu bleiben. Kurz gesagt, nicht zu verraten, woher ich komme - auch wenn mir das noch nie jemand vorgeworfen hat. Ich bin in Châteauroux aufgewachsen.
Meine Eltern arbeiteten in einer Bank; es war ein ziemlich bürgerliches Mittelklasse-Leben, aber eben in der Größenordnung einer Kleinstadt. Außerdem waren mütterlicherseits alle Männer Metzger. Ich war also wirklich meilenweit von allem entfernt, was mit Filmemachen zu tun hatte. Nach dem Abitur bin ich nur deshalb nach Paris gegangen, weil ich meinem besten Freund gefolgt bin, der unbedingt an die Sciences Po wollte. Ich bin dann selbst auf die Kunsthochschule gegangen, und einige Zeit später habe ich den Drehbuch-Workshop an der Fémis Film School besucht. Und ich spüre, dass die Schuldgefühle immer noch sehr präsent sind - ich glaube sogar, sie sitzen tief.
Auch der Schauplatz Ihrer Geschichte spricht Bände, zum Beispiel die Raststätte von Céciles Eltern am Straßenrand. Sie ist das Herzstück des Films, ein warmer, belebter, wuseliger Ort, aber eben auch ein Ort, an dem die Menschen nie wirklich ankommen, sondern immer nur auf der Durchreise sind…
Es ist ein Zwischenstopp, der von Menschen betrieben wird, die selbst nie von dort abreisen. Diese Spannung hat für mich etwas zutiefst Poetisches an sich. Aber es ist eben auch ein kraftvoller Ort, denn es hat ja etwas unglaublich Bedeutsames, Menschen zu ernähren, die arbeiten. Vor allem, wenn man bedenkt, dass diese Lokale oft von Paaren betrieben werden, die vor Ort leben. Sie können sich vorstellen, wie sehr das jemanden wie Cécile prägt, der an einem solchen Ort aufwächst.
Die Raststätte entfaltet eine unglaubliche Präsenz auf der Leinwand – in Neonlicht getaucht, zuweilen beinahe wie in einem Traum.
Das liegt wahrscheinlich daran, dass das Lokal in unserem Film eine echte Raststätte ist. Sie befindet sich in der Region Grand Est und war gerade von einem Ehepaar übernommen worden, als wir auf Locationsuche waren. Es war sogar der erste Ort, den wir besuchten, und wir fühlten uns sofort mit ihm verbunden. Während der Dreharbeiten verbrachten wir schließlich drei Wochen dort. Wir haben es einfach in „L'Escale“ umbenannt, nach einem bekannten Lokal in Châteauroux. Das war meine Art, meine realen Wurzeln zu erwähnen, mitten in der Fiktion.
Das Sounddesign im Film ist beeindruckend. Das konstante Brummen liegt über der gesamten Szenerie…
… Na, weil die Raststätte direkt neben einer vierspurigen Autobahn liegt. Der Verkehr hört einfach nicht auf. Und ich fand es wichtig, dass dieses Geräusch auch unablässig präsent ist. Wenn man an einem solchen Ort aufwächst, macht das etwas mit unseren Sinnen. Wirkliche Stille gibt es nicht und das fügt eine weitere Spannungsebene hinzu.
Und dann wäre da noch die musikalische Ebene, unbestreitbar das Schlüssel-element Ihres Films. Sind Sie ein eingefleischter Musical-Fan oder warum eine so mutige Entscheidung gleich bei ihrem Spielfilmdebüt?
Ich liebe Lieder im Allgemeinen und Musicals im Besonderen. Musik ist auf beeindruckende Weise präsent in unserem täglichen Leben. Sie ist eine Art gemeinsame Basis, sogar eine Brücke zwischen Menschen derselben Generation. Egal wie unterschiedlich sie sind, die Chancen stehen gut, dass sie mindestens einen Song gemeinsam haben. Das ist auch der Grund, warum ich aktuelle Lieder verwenden wollte, weil sie auf etwas Gemeinsames zurückgreifen. Beliebte Songs sind Träger von Erinnerungen. Hört man sie, erinnern sie einen an einen Moment, einen Ort oder einen Menschen. Manchmal braucht es nur einen Song, um eine ganze Welle von Gefühlen auszulösen. Das finde ich interessant, weil man ja auch in einem Film oft versucht Dinge auszudrücken, ohne sie in Worte zu fassen. In diesem Sinn sind Lieder und Musik ein perfektes Vehikel dafür.
Wie kam der besondere Mix aus Songs, von Dalida über Claude Nougaro bis zu den Hits von 2BE3 und Yannick zustande?
Die meisten Entscheidungen waren ziemlich offensichtlich. Einerseits mussten die Lieder bekannt sein, andererseits mussten sie für uns eine persönliche Bedeutung haben. Die Idee, ein Lied von Nougaro zu nehmen, stammt z.B. von meinem Vater - er ist ein großer Fan. Die Texte der jeweiligen Songs mussten in erster Linie der Erzählung dienen. Andere haben wir schlicht wegen ihres Kultstatus verwendet, wie in der Schlittschuhszene. Sagen wir einfach, wir wollten Spaß mit dem Genre und mit den verschiedenen Generationen haben. Deshalb habe ich für die Arrangements und Orchestrierungen mit mehreren Komponisten zusammengearbeitet. Ich wollte nicht nur einen einzigen Musikstil für unsere Coverversionen im Film.
Sie scheinen auf Schlichtheit und Leichtigkeit in den Darbietungen Wert gelegt zu haben. Die Schauspieler wirken beim Singen sehr natürlich.
Ja, wir haben uns auf die Freude am Singen konzentriert! Tatsächlich haben wir jeden Song live am Set aufgenommen, genauer gesagt, jede Gesangsszene so oft wie nötig gefilmt, um die richtige Performance einzufangen. Dann haben wir den Gesang noch einmal live aufgenommen, aber diesmal ohne Schauspielerei, nur mit Blick auf die Tonhöhe und die Präzision, um sicherzugehen, dass wir es auch wirklich geschafft haben. Auch bei der Tonarbeit in der Nachbearbeitung, vor allem beim Schnitt, wurde auf das kleinste Detail geachtet.
Wie sind Sie die Musical-Sequenzen filmtechnisch angegangen? Wie wurden sie choreografiert und wie passten sie sich dann in den Rest des Films ein?
Der Großteil der Sequenzen wurde choreografiert, einschließlich derjenigen, in denen die Figuren tatsächlich tanzen, wie die Nachtclubszene oder die Szene auf der Eisbahn, aber auch derjenigen, in denen sie eher alltägliche Aufgaben erfüllen, wie Kartoffelschälen oder Kochen. Mit Thierry Thieû Niang, dem Choreographen des Films, ging es uns nicht um den „Tanz“ an sich, sondern vielmehr um die Art und Weise, wie sich jeder Körper im Einklang mit der Persönlichkeit der Figur durch den Raum bewegt - was wäre das richtige Tempo, die richtigen Gesten, um sich nahtlos in den Film einzufügen, um sicherzustellen, dass diese Sequenzen keine separaten Tableaus sind, sondern vollständig in die Erzählung integriert sind und sich perfekt in den Naturalismus der anderen Szenen einfügen.
Das Ziel war, dass die Schauspieler während der Dreharbeiten nicht nach ihren Bewegungen suchen mussten. Wir wollten, dass sie sich auf ihre Darbietungen und ihr Spiel konzentrieren können. Auch die Choreografie kommt zwischen den Körpern der Schauspieler und der Kamera ins Spiel. In der bereits erwähnten Kartoffelschälszene kreist die Kamera um die Figur des Vaters. Auf der Eisbahn dreht sie sich um 360 Grad, und im Nachtclub ist sie wie ein grelles Blitzlicht, das die Figuren nie verlässt und mit ihnen spielt. Aber in der ersten Musicalszene zum Beispiel leiten die Körper die Bewegung. Wir versuchen, die Chemie zwischen Sofiane und Cécile einzufangen, indem wir uns an die Flüssigkeit ihres Schauspiels anpassen. Im Grunde dreht sich beim Filmemachen alles irgendwie um Choreografie…
Cécile ist Juliette Armanets erste Hauptrolle in einem Spielfilm. Haben Sie sie vor allem deshalb für diese Rolle ausgewählt, weil sie eine bekannte Singer-Songwriterin ist?
Nein, eigentlich überhaupt nicht. Ich habe Juliette während einer Live-Performance kennengelernt, bei der sie Musik machte und ich live zeichnete. Ich war beeindruckt von ihrer Präsenz, ihrer Art zu sprechen, auch von ihrem vogelähnlichen Profil - und ich wollte sie sofort filmen. Ich glaube nicht, dass sie vorher jemals eine echte Charakterrolle gespielt hatte. Aber ich wusste, dass sie den Wunsch zu schauspielen hatte, noch bevor sie anfing, Musik zu machen. Am Set empfand ich sie als präzise, natürlich und großzügig. Sie schaffte es, sich in eine Figur hineinzuversetzen, die ihr im wirklichen Leben gar nicht ähnlich ist, und sie ließ sich wirklich gehen - eine wahre Schauspielerin! Und selbst in den musikalischen Sequenzen wollte ich immer, dass die Schauspielerei an erster Stelle steht.
Bastien Bouillon bereichert seine Rolle als Céciles Schulliebe Raphaël mit einer wunderbaren Mischung aus Sanftmut und köstlichem Humor…
Wir hatten schon für meinen Kurzfilm zusammengearbeitet. Auch bei diesem Spielfilm stimmte die kreative Chemie sofort! Bastien ist ein so beeindruckender Schauspieler - er ist ein großartiger Zuhörer, er ist genau und hat immer Ideen. Ich hoffe, dass es ihm Spaß gemacht hat, diese Rolle zu spielen! Jedenfalls hat er sich voll und ganz auf Raphaël eingelassen - ein bisschen frech, charmant, immer zu einem Scherz aufgelegt, aber mit einem Blick in den Augen, der auf die Kämpfe des Lebens oder eine plötzliche Welle des Zweifels hindeutet. Bastien hat die unglaubliche Fähigkeit, all diese Nuancen an die Oberfläche zu bringen. Darin liegt die Magie großer Schauspieler – sie können all das vermitteln, was nicht gesagt oder gezeigt, aber dennoch tief empfunden wird.
Auch der Rest der Besetzung vereint einzigartige Darsteller des französischen Kinos, wie François Rollin oder auch Dominique Blanc…
Die Rolle des Vaters wurde beim Übergang vom Kurzfilm zum Spielfilm erweitert, weil ich das Gefühl habe, dass wir nicht genug Vater-Tochter-Beziehungen im Film sehen. Es war eine gute Gelegenheit, jene Generation von Männern zu erforschen, denen nie beigebracht wurde, wie man kommuniziert. Und so erleben wir diese etwas komplizierte, unbeholfene, sogar verletzte Vater-Tochter-Dynamik - auch wenn es viel Liebe zwischen ihnen gibt. Aber es liegt wirklich an François Rollin, der die Rolle auf die nächste Ebene gehoben hat. Wir sehen ihn leider nicht oft in Filmen, aber er ist fantastisch! Und Dominique Blanc ist so lebendig und bewegend in der Rolle der Fanfan, verleiht ihr eine unglaubliche Eleganz. Ehrlich gesagt bin ich ihr so dankbar, dass sie sich bereit erklärt hat, eine Nebenrolle in einem ersten Spielfilm zu übernehmen, und dann auch noch in einem Musical. Sie hat es ohne zu zögern getan - so viel Klasse.
„To Leave One Day Without Return” heißt es in dem 2BE3-Song, der dem Film auch seinen internationalen Titel „Leave One Day“ leiht. Ist das die Geschichte, die Sie erzählen wollten?
Eigentlich geht es in meinem Film um die Verbindungen, die wir mit Menschen, Dingen und Orten haben. Wir können ihnen nicht wirklich entkommen, egal wie viele Meilen uns trennen. Es gibt eine Zeile in dem Kurzfilm, die oft erwähnt wird: „Es reicht nicht aus, sich von den Dingen zu entfernen, damit sie aufhören, an uns festzuhalten“. Das ist das übergreifende Thema, auf das wir immer wieder zurückkommen.
Foto:
©Verleih
Info:
Land: Frankeich
Jahr: 2025
Filmlänge: 96 Minuten
Stab
Regie und Drehbuch Amélie Bonnin
Mit Juliette Armanet, Bastien Bouillon, François Rollin, Tewfik Jallab, Dominique Blanc, u.a.
Kinostart: 02. Oktober 2025
im Verleih von Wild Bunch Germany
Abdruck aus dem Presseheft