san5Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 26. November 2025, Teil 13

Julian Radlmaier

Berlin (Weltexpresso) - An einem Sommertag führte mich der Zufall nach Sangerhausen. Diese kleine ostdeutsche Stadt, halb aus rechteckigen Häuserblocks, halb aus mittelalterlichen Gassenlabyrinthen bestehend, liegt zwischen einem riesigen Rosengarten und einer bergähnlichen Halde, die wie eine ägyptische Pyramide über der Landschaft thront. Man könnte fast meinen, dieses Relikt der sozialistischen Bergbauindustrie sei der romantischen Fantasie des Dichters Novalis entsprungen, der in einem nahgelegenen Dorf geboren wurde und selbst im Bergbau arbeitete.

Er ist vor allem für das Bild der „blauen Blume“ bekannt, mit dem er die vage Sehnsucht nach dem schwer fassbaren Etwas ausdrückte, das wir manchmal in Träumereien oder vorbeiziehenden Wolken erahnen, aber nie ganz greifen können – den Ruf eines anderen Lebens. Die Protagonist*innen meines Films sind jedoch keine romantischen Dichter, sondern prekär Beschäftigte und Migrant*innen.

Für sie wird die Frage der Sehnsucht zu einer zutiefst politischen, da denen, die mit dem Überleben beschäftigt sind, sogar das Recht verwehrt wird, nach dem Sinn des Lebens zu fragen: Zuerst muss die Miete bezahlt, die Aufenthaltsgenehmigung verlängert werden. Und doch suchen sie nach der blauen Blume – auch wenn sie manchmal an zweifelhaften Orten danach suchen... Vielleicht ist es schon etwas, wenn ein paar einsame Seelen eine unwahrscheinliche Gemeinschaft bilden, und sei es nur für einen Nachmittag?

Vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Klimas, das bedrohlich nach rechts kippt, bringt SEHNSUCHT IN SANGERHAUSEN Menschen zusammen, die in der öffentlichen Debatte oft gegeneinander ausgespielt werden. Es ist ein Film über die Alchemie der Begegnung. Genauer gesagt kontrastiert der Film zwei Begegnungen: Die erste (die romantische Liebesbeziehung zwischen der proletarischen Kellnerin Ursula und der bürgerlichen Geigerin Zulima) scheitert dramatisch, während die zweite (die seltsame Freundschaft zwischen Ursula, der iranischen Möchtegern-Influencerin Neda und dem koreanischen Reiseleiter Sung-Nam) komisch gelingt. Dies spiegelt meine Überzeugung wider, dass die tiefere Kluft zwischen den Menschen nicht horizontal zwischen Nationen und Kulturen verläuft, sondern vertikal zwischen sozialen Klassen.

Am Ende verbinden sich die Figuren sogar mit den Geistern der Vergangenheit, als sie herausfinden, dass ihre gemeinsamen Träume eigentlich sehr alt sind... Sowohl inhaltlich als auch formal vertraue ich auf den freudigen Widerstand des Kinos.


JULIAN RADLMAIER BIOGRAFIE

Julian Radlmaier, geb. 1984 in Nürnberg, ist ein deutsch-französischer Filmemacher und lebt in Berlin. Er studierte Filmwissenschaft und Kunstgeschichte in Berlin und Paris und anschließend Regie an der dffb. Währenddessen arbeitete er als Assistent von Werner Schroeter und hat filmtheoretische Schriften des französischen Philosophen Jacques Rancière übersetzt und herausgegeben. Seine zwei mittellangen Filme „Ein Gespenst geht um in Europa“ und „Ein Proletarisches Wintermärchen“ sowie der abendfüllende Abschlussfilm SELBSTKRITIK EINES BÜRGERLICHEN HUNDES, in dem er selbst die Hauptrolle spielt, liefen weltweit auf renommierten Festivals (u.a. Berlinale, Rotterdam, Viennale, Rio, Melbourne, FICUNAM) und wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit zwei Preisen der deutschen Filmkritik. Sein zweiter Spielfilm BLUTSAUGER feierte 2021 in der Berlinale-Sektion Encounters Premiere und erhielt bereits 2019 den Deutschen Drehbuchpreis. SEHNSUCHT IN SANGERHAUSEN feierte im Wettbewerb des Locarno Filmfestivals seine Premiere.

FILMOGRAFIE:
EIN GESPENST GEHT UM IN EUROPA (Mittellang) – 2013
EIN PROLETARISCHES WINTERMÄRCHEN (Mittellang) – 2014
SELBSTKRITIK EINES BÜRGERLICHEN HUNDES – 2017
BLUTSAUGER – 2021
SEHNSUCHT IN SANGERHAUSEN – 2025

Foto:
© Verleih

Info:

SEHNSUCHT IN SANGERHAUSEN
 Julian Radlmaier 
Deutschland 2025,
90 Min.,
deutsche Fassung
Ab 13. November im Kino
Stab
Buch, Regie, Montage: Julian Radlmaier
Kamera: Faraz Fesharaki
Besetzung
Ursula: Clara Schwinning
Neda: Maral Keshavarz
Lotte: Paula Schindler
Zulima: Henriette Confurius
Marjam: Ghazal Shojaei
Sung-Nam: Kyung-Taek Lie
Buk: Buksori Lie
Bratschist Paul: Jérémie Galiana
Cellistin Daniella: Marlene Hauser
Grete: Luise von Stein
Arnulf: Andreas Döhler
Robert: Leonard Scheicher
Norbert: Jakob Schmidt
Frau Markgraf: Valerie Neuenfels

Abdruck aus dem Presseheft