Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 25. Dezember 2025, Teil 10Redaktion
Berlin (Weltexpresso) - Unter welchen Umständen haben Sie Fatima Daas‘ „Die jüngste Tochter“ entdeckt und warum hat Sie der Roman so stark angesprochen?
Nach meinem ersten Spielfilm DU VERDIENST EINE LIEBE teilte mir mein Agent mit, dass Julie Billy mir die Adaption von Fatima Daas’ Buch anbieten wolle. Sie und Naomi Denamur hatten die Rechte erworben und gerade ihre eigene Produktionsfirma gegründet. Ich hatte damals noch nichts von dem Roman gehört, aber als ich ihn las, verliebte ich mich sofort in ihn. Als Frau hat er mich sehr bewegt und beeindruckt. Mein erster Gedanke war: „So eine Figur habe ich noch nie auf der Leinwand gesehen.“ Eine Heldin nordafrikanischer Herkunft, praktizierende Muslimin, die in einem Vorort lebt und sich zu Frauen hingezogen fühlt. In diesem Umfeld wird Homosexualität oft aus männlicher Perspektive erzählt, nicht aus weiblicher. Aus eigener Erfahrung als „Mädchen aus der Sozialbausiedlung“, das in den nördlichen Stadtvierteln von Marseille aufgewachsen ist, kenne ich solche Charaktere. In der Sozialbausiedlung ist es nicht leicht, anders zu sein – und dazu zu stehen. Doch diese Geschichte lässt sich nicht auf einen sozialen Typus reduzieren. Sie ist völlig universell.
Wie lief der Schreibprozess ab? Haben Sie sich in Bezug auf Fatima Daas‘ Originaltext gewisse Freiheiten erlaubt?
Das Buch ist recht zurückhaltend im Ton, was zu Fatimas eher ruhigen Art passt. Vieles wird nur angedeutet und muss erraten werden. Ich wusste, dass die Adaption des Buchs nicht einfach werden würde, daher war meine Bedingung, völlige Freiheit zu haben. In dieser Phase wollte ich nicht, dass noch fünfzig andere Personen involviert sind. Auf jeden Fall ist die Adaption recht frei. Ich habe einige Figuren genauso belassen, wie sie im Buch vorkommen, und andere neu hinzugefügt. Manche Szenen sind durch ein einziges Wort oder einen einzigen Satz entstanden. Umgekehrt tauchen manche Elemente – wie Fatimas Kindheit – in meinem Film überhaupt nicht auf. Im Wesentlichen habe ich bestimmte Elemente aus dem Buch übernommen und versucht, mehr Klarheit in die Gefühlswelt zu bringen. Dabei bin ich immer dem treu geblieben, was mich interessiert: die Figur. Dennoch war es mir wichtig, dass Fatima Daas Teil des Prozesses ist. Ich habe ihr regelmäßig verschiedene Drehbuchfassungen zugeschickt, um ihr Feedback einzuholen. Schließlich ist es immer noch ihre Geschichte. Ich musste ihr auch sehr persönliche Fragen stellen – über Sex zwischen zwei Frauen, die Körperlichkeit, das Asthma der Hauptfigur. Zudem habe ich umfangreiche Recherchen betrieben. Ich habe Abende in Lesbenbars verbracht, um die Atmosphäre besser zu verstehen, und wurde mit offenen Armen und so viel Freundlichkeit empfangen. Ich habe mit vielen Menschen über LGBTQI+-Themen gesprochen. Ich wollte die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, so gut wie möglich verstehen, indem ich ihnen zuhörte. Ich habe von einem Lungenspezialisten alles über Asthma gelernt. Dabei habe ich ihn auch gleich überredet, in meinem Film mitzuspielen – der Arzt im Film ist ein echter Arzt.
Dies ist Ihre erste Romanverfilmung. Normalerweise schreiben Sie Ihre eigenen Geschichten. Wie hat sich Ihre Beziehung zum Schreiben dadurch verändert?
Es stimmt, ich hatte noch nie zuvor an einer Adaption gearbeitet. Zunächst habe ich mich wirklich gefragt, ob ich der Herausforderung gewachsen sein würde – und ob ich den Erwartungen der Leser:innen, die das Buch geliebt haben, gerecht werden könnte. Fatima Daas‘ Feedback hat mich während des gesamten Prozesses immer wieder davon überzeugt, dass meine Arbeit glaubwürdig ist. Da der Roman nicht viele Dialoge enthält, musste ich auch seinen Ton, seine Worte und seine Stimme finden, um ihm treu zu bleiben und so präzise wie möglich zu sein. Ich wollte auf keinen Fall, dass die Figur zu gesprächig ist. Im Gegenteil: Alles sollte durch ihre Blicke, ihre Beobachtungen und ihre Aufmerksamkeit lesbar sein, als würde sie die Welt wie ein Schwamm aufsaugen.
Die erste Szene des Films zeigt das islamische Ritual der Waschung vor dem Gebet. Auf diese Weise wird die Titelheldin vorgestellt. Trotzdem ist DIE JÜNGSTE TOCHTER alles andere als ein dogmatischer Film, kein Film, der sich ausschließlich auf die Religion konzentriert.
Ja, genau. Diese erste Szene zeigt Fatimas Alltag, der zu ihrer Persönlichkeit, ihrer Erziehung, ihrer Kindheit, ihrem Leben und ihren Entscheidungen gehört. Wir tauchen direkt in ihre intime Welt und ihren innersten Glauben ein. Man erkennt, dass sie in diesem Ritual ihre innere Ruhe findet. Man kann es fühlen. Die Idee war, zu zeigen, dass sie aus eigenem Willen betet. Nur sie selbst weiß im Übrigen, ob auch ihre Schwestern es tun.
Wie würden Sie Fatimas Charakter beschreiben?
Sie ist eine junge Frau, die innerlich leidet. Aber es ist nicht so, als wüsste sie nicht, was ihr fehlt – sie weiß ganz genau, wer sie ist. Sie fühlt sich jedoch schuldig gegenüber ihrer Religion, ihrer Familie und sich selbst. Ich glaube nicht, dass sie sich selbst wirklich liebt. Sie ist hin- und hergerissen: Einerseits fühlt sie sich mit ihrer Homosexualität unwohl, andererseits sehnt sie sich danach, sie auszuleben. Sie reagiert heftig, wenn man ihr einen Spiegel vorhält. Da gibt es so eine Art episodischen Selbsthass. Ich wollte, dass das Wort „lesbisch“ eine bestimmte Form der Gewalt auslöst, weil es sowohl widerspiegelt, wer sie ist, als auch, wer sie noch nicht bereit ist zu sein. Das ist oft so bei Menschen, die sich selbst nicht akzeptieren können. Das Wort laut auszusprechen ist, als würde man ein Geheimnis preisgeben.
Die Figur ist gefangen zwischen Tradition und Moderne, zwischen dem Druck ihres Freundes, ihrer Familie und ihren persönlichen – sexuellen wie beruflichen – Ambitionen. Wie haben Sie diese Spannung auf der Leinwand umgesetzt?
Sie hat Angst, die Menschen in ihrem Umfeld zu verletzen, ihre Liebe zu verlieren und, dass sich alles verändert, wenn ihr Geheimnis gelüftet wird. Ich wollte, dass sie trotz ihrer Rüstung und ihrer starken Persönlichkeit sensibel ist. Sie ist sowohl da als auch nicht da. Ich wusste, dass die Kamera in ihre Privatsphäre eindringen muss und Fatima in jeder Aufnahme zu sehen sein würde. Ich habe extrem darauf geachtet, dass alles realistisch bleibt. Was mich als Regisseurin antreibt, ist die Suche nach der Wahrheit in den winzig kleinen Momenten des Lebens. Dass sich der Film so natürlich anfühlt, liegt daran, dass die Szenen tatsächlich sehr sorgfältig einstudiert und ausformuliert wurden. Das eigentliche Geheimnis ist jedoch das Proben, genau wie im Theater. Ich habe einen Coaching-Workshop mit unseren Laiendarstellern geleitet, in dem wir Szenen geprobt haben. Das Ziel war, dass sie die Kamera vergessen und einfach echte Momente ohne Sicherheitsnetz erleben.
Wie in EINE GUTE MUTTER steht auch in diesem Film eine Familie im Mittelpunkt, in der der Vater meist abwesend ist. Um die Mutter herum haben wir Fatima und ihre Schwestern. Die Atmosphäre ist sowohl warm als auch erdrückend, es wirkt wie ein weiterer Ort, der für Fatima mit einer gewissen Ambivalenz verbunden ist.
Und ich kann bestätigen, dass diese Ambivalenz beabsichtigt ist. Deshalb sind alle in der Wohnung immer so nah beieinander – um diese klaustrophobische Atmosphäre zu vermitteln. Die Vaterfigur im Buch ist strenger und kälter. Das wollte ich nicht zeigen. Ich wollte etwas anderes zeigen. Mich interessierte vielmehr, einen Mann zu zeigen, der von den Frauen in seinem Umfeld dominiert wird. Ich habe die Rolle mit Razzak Ridha besetzt, einem Schauspieler, der in meiner Nachbarschaft wohnt. Ich habe ihn oft auf der Straße oder in Cafés gesehen. Wir luden ihn zum Vorsprechen ein, und in dem Moment, als er sich hinsetzte, wusste ich, dass er der Richtige ist. In meinen Augen weiß die Mutter über ihre Tochter Bescheid, während der Vater keine Ahnung hat. Was das häusliche Umfeld angeht, hatten wir nicht viele Drehtage, aber ich wollte, dass es sich vom ersten Moment an wie bei einer echten, tatsächlichen Familie anfühlt. Es war mir sehr wichtig, ihr tägliches Leben in dieser Umgebung festzuhalten. Die Mutter kocht in diesen Szenen tatsächlich. Ich bin besessen davon, dass alles realistisch wirkt – bis hin zu den kleinsten Details und Darbietungen. Die Madeleines, die sie für ihre Kinder backt, sind beispielsweise eine Anspielung auf Proust.
Es wird sofort deutlich, dass Fatimas Homosexualität ihr tägliches Leben stark belastet. Wie Sie bereits erwähnt haben, werden arabische oder muslimische Lesben im französischen Kino selten dargestellt. Hatten Sie das Gefühl, eine unausgesprochene Wahrheit anzusprechen?
Auf jeden Fall. Jedes Mädchen und jeder Junge, jeder Mensch, der das Gleiche durchmacht wie Fatima, wird sich mit ihr identifizieren können. Beim Vorsprechen habe ich Menschen getroffen, die wirklich schreckliche Erfahrungen gemacht haben. Einige wurden von ihren Eltern rausgeworfen, verstoßen oder abgelehnt. Es war schrecklich. Wenn unsere Casting-Direktorin den Film erklärte, erstarrten die Leute bereits bei der Erwähnung des Worts Homosexualität. Wir hörten immer wieder: „In diesem Film kann ich nicht mitspielen.“ „Homosexualität unterstütze ich nicht.“ „Wenn mein Kind gay wäre, würde ich es aus dem Ahnenregister streichen.“ Schreckliche Dinge. Es war nicht einfach, den Film zu finanzieren – aufgrund des Themas. Aber angesichts solcher Ungerechtigkeit musste ich es einfach tun. Ich wusste, dass es Homophobie gibt, aber nicht in diesem Ausmaß. Die Castings dauerten so lange, weil dieser Film nur mit Menschen realisiert werden konnte, die seine Botschaft von Inklusion und Toleranz teilten.
Die Jahreszeiten liefern die Kapitelüberschriften des Films. Inwiefern strukturieren sie Fatimas Reise?
Der Film folgt ihr über einen Zeitraum von einem Jahr – ein Ausschnitt aus ihrem Leben zwischen Gymnasium und Universität. Das erlaubt uns, den Lauf der Zeit zu zeigen. Außerdem half es mir dabei, die bruchstückhaften Aspekte von Fatima Daas‘ Erzählung zu übernehmen, die es dem Zuschauer ermöglichen, eigene Vorstellungen zu projizieren.
Auffällig ist, wie viel Aufmerksamkeit Sie der Gestik und den Gesichtern Ihrer Schauspieler:innen schenken. Sie verwenden oft Nahaufnahmen, und Ihr sensibler Blick auf Ihre Figuren erinnert an Filmemacher wie Abdellatif Kechiche, der Ihnen zu Ihrem Durchbruch verhalf, an die Brüder Dardenne oder Ken Loach. Fühlen Sie sich mit dieser filmischen Tradition verbunden oder teilen Sie zumindest den Wunsch, echte Menschen und das echte Leben darzustellen?
Ich würde auch Andrea Arnold hinzufügen. Ich bewundere sie alle. Sie sind für mich eine große Inspiration. Ich liebe die Echtheit, die ihre Filme vermitteln. Ich möchte, dass das Publikum vergisst, dass es einen Film sieht. Ich liebe es, den Alltag zu filmen. DIE JÜNGSTE TOCHTER beginntzum Beispiel genau wie EINE GUTE MUTTER früh am Morgen, mit Handlungen, die das wirkliche Leben der Protagonistin zeigen. Ich liebe Dialoge, die auf den ersten Blick trivial erscheinen. Ich liebe es, wenn sich Gespräche am Esstisch überschneiden. Ich liebe es, wenn es „chaotisch“ ist. Ich liebe es, wenn Fehler passieren. Ich sage den Schauspieler:innen immer, dass sie auf keinen Fall aufhören sollen, wenn etwas schiefläuft. Realistische Alltagsszenen sind sehr schwer zu drehen.
Nadia Melliti ist als Fatima umwerfend. Es ist ihre erste Rolle in einem Film. Wie haben Sie ein solches Talent entdeckt, und wann wussten Sie, dass sie Ihre Titelheldin ist?
Wir haben eine groß angelegte Casting-Kampagne gestartet und über ein Jahr lang in mehreren Städten sowohl professionelle als auch nicht-professionelle Schauspieler:innen gecastet. Als ich die Fotos von Nadia sah, dachte ich nur: „Wow!“ Ich nahm jedoch an, dass sie gemischter Herkunft sei und keine nordafrikanischen Wurzeln hatte, wie es unsere Geschichte verlangte. Irgendwann schafften wir schließlich ein komplettes Vorsprechen. Dabei habe ich sie nicht angeleitet. Alle improvisierten, ohne zu wissen, welche Figuren sie spielen würden. Als wir unstrafen, war ich schon berührt von ihr, bevor wir überhaupt miteinander gesprochen hatten. Es war wie eine künstlerische Liebe auf den ersten Blick. Ich erkannte die Figur in jeder ihrer Gesten und konnte sie auf sie projizieren. Sie sprach fließend Arabisch. Ich liebte ihre Ausstrahlung, ihr Geheimnis. Sie erinnerte mich an eine ägyptische Göttin. Von einer solchen Entdeckung hatte ich geträumt, denn der gesamte Film hängt von ihr ab. In dem Moment, in dem ich die Kamera auf sie richtete, wusste ich sofort – zu einhundert Prozent –, dass alles da war und dass sie meine Erwartungen übertreffen würde.
Ji-Min Park spielt die junge Frau, in die sich Fatima verliebt. Was hat Sie davon überzeugt, dass sie die richtige Schauspielerin für diese Rolle war?
Die Figur im Drehbuch war wirklich knifflig. Ich wollte kein stereotypes Profil. Ich sagte dem Casting-Team, dass mir die Herkunft egal sei. Eines Tages kam dann Filmemacher Davy Chou auf mich zu, um ein Projekt zu pitchen. Er schickte mir seine Filme, und als ich OHNE RÜCKKEHR sah, war ich von Ji-Min Park überwältigt – von ihrer Ausstrahlung, ihrer Präsenz. In einem Interview gefiel mir auch, wie sie über die Schauspielereisprach, über die Freude daran, den Moment am Filmset zu leben. Sie und Nadia verstanden sich auf Anhieb.
Erzählen Sie uns bitte etwas über die Bildgestaltung von Kameramann Jérémie Attard.
Er hat schon meine früheren Filme gefilmt. Die Bildgestaltung war eine Teamleistung mit der Szenenbildnerin und der Kostümdesignerin. Ich wollte, dass die Nachtszenen sinnlich und die Tagesszenen heiter wirken. Dementsprechend habe ich die Drehorte ausgewählt, insbesondere auf schwarze und rote Farbtöne für die Abendszenen geachtet. Ich wollte, dass es noch schöner aussieht als in meinen früheren Filmen, und dass das Licht, in dem Nadia spielt, so natürlich wie möglich ist.
Amine Bouhafas Musik wird sparsam, aber wirkungsvoll eingesetzt.
Er ist jemand, den ich zutiefst bewundere und der ein unbestreitbares Talent hat. Er hat mich mit Instrumenten bekannt gemacht, von denen ich nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Seine Arbeit für Filme wie OLFAS TÖCHTER und TIMBUKTU hat mich wirklich beeindruckt. Er komponierte auch für VISITING HOURS, in dem ich mitspielte. Ich sagte ihm gleich zu Beginn, dass ich keine Ahnung von Musik habe, aber er beruhigte mich sofort. Er ist wirklich begnadet.
DIE JÜNGSTE TOCHTER ist eine Reise hin zu Gleichheit, Licht und Hoffnung. Im Laufe der Geschichte wird die Figur immer strahlender. Sie wird, im Sinne von Étienne de La Boétie, der in einer Szene zitiert wird, eine „Gleiche unter Gleichen“. Letztendlich ist das das Ziel dieses Films.
Genau. Es geht um eine junge Frau, die ihr eigenes Leben leben möchte. Ihre Andersartigkeit in den Augen anderer sollte kein Grund zum Leiden sein. Heilung kommt auch durch Wissen – Schule, Universität, Bildung, das Lernen über die Welt. Bildung ist so wichtig, vor allem, wenn man aus einem Umfeld kommt, in dem es keine Chancengleichheit gibt.
Foto:
©Verlag
Info:
Besetzung
Fatima Nadia Melliti
Ji-Na Ji-Min Park
Kamar Amina Ben Mohamed
Nour Melissa Guers
Dounia Rita Benmannana
Ahmed Razzak Ridha
Benjamin Louis Memmi
Tarik Waniss Chaouki
Nacer Anouar Kardellas
Stab
Drehbuch und Regie Hafsia Herzi
Abdruck aus dem Presseheft



