Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 12. März 2015, Teil 3

 

Kirsten Liese

 

Berlin (Weltexpresso) - Gleichgültig rattert die Richterin das endlos lange Urteil herunter. Von nun an gehört Kolya (Aleksey Serebryakov) nicht mehr sein am arktischen Barentsee gelegenes Haus. Der machtgierige, fiese Bürgermeister (Roman Madyanov) hat den Prozess gewonnen.

 

Er kann sich nun auf dem heiß begehrten Grundstück einen eigenen Palast bauen – „zum Wohle des Volkes!“ Zum Ausgleich muss er nur einen kaum nennenswerten Spottpreis zahlen. Für den Geprellten ist dies der Anfang vom Ende. Nach und nach wird er nach dem Eigenheim alles andere verlieren, seine Frau, seinen Freund, am Ende sogar sein Kind.

 

Andrey Zvyagintsev gilt seit seinem Erstling „The Return“ (Die Rückkehr), für den er 2003 in Venedig den Goldenen Löwen gewann, zu Recht als eines der größten Talente im russischen Kino. Er komponiert Bilder von verrätselter Wucht und archetypischer Schönheit, verbindet scharfsichtige Gesellschaftsanalysen mit starker Metaphorik. Und so sind seine Filme dem Leben enthoben und ihm zugleich auf elementare Weise nah.

 

Sein jüngstes Werk „Leviathan“ ist in dieser visuellen Hinsicht - auch wenn die Jury in Cannes es seltsamerweise nicht für die beste Regie, sondern für das beste Drehbuch ausgezeichnet hat - vielleicht sein Opus Magnum. Ein Meisterwerk wie „Solaris“ und „Stalker“ von Tarkowski oder „Vater und Sohn“ von Alexander Sokurow.

 

Der Titel geht auf Thomas Hobbes’ gleichnamige staatstheoretische Schrift zurück, in ihr steht das alttestamentarische Seeungeheuer Leviathan für die Allmacht des Staates gegenüber der Hilflosigkeit des Individuums. Aber auch das mythologische Geschöpf hinterlässt in dieser Parabel seine Spuren, mit einem riesigen, an den kargen, menschenleeren Strand gespülten Skelett eines Wals oder auch mit dem Monstrum, das schließlich das enteignete Haus verschlingt.

 

Auch Kolya ist eine archaische Figur, ein moderner Hiob. Im Gegensatz zur biblischen Gestalt verliert sich der Automechaniker nur nicht in Selbstmitleid über die Ungerechtigkeit der Welt. Er leistet sogar Widerstand, stellt sich Autoritäten in den Weg, lässt nichts unversucht, seinen unaufhaltsamen Niedergang abzuwenden.

 

Sein Armeefreund Dimitri (Vladimir Vdovichenkov), ein Nachwuchsanwalt aus Moskau, soll ihm dabei helfen. Er kennt sich aus mit diffizilen Verfahren, hat sogar etwas gegen den Dorfvorsteher in der Hand, brisante Dokumente, die dessen Ansehen bei Bekanntgabe sehr schaden würden. Der aber lässt sich nicht so leicht erpressen, begegnet schlagkräftigen Argumenten mit noch schlagkräftigeren Guerillas.

 

Und so helfen, wo Despotie und Willkür herrschen, Staat, Politik und Kirche derart korrupt miteinander verflochten sind, nur noch literweise Wodka und die Religion. Die Einwohner der kleinen Küstenstadt fragen ihre Freunde und Nachbarn schon lange nicht mehr, wie es ihnen geht, sondern nur noch: „Glaubst du an Gott?“

In solchen Momenten vermittelt sich, dass „Leviathan“ auch ohne konkrete Putin-Bezüge allemal als ein regimekritischer Kommentar zum heutigen Russland gedeutet werden kann. Doppelmoral, Korruption, Verlogenheit und Gewalt, nichts spart das zutiefst pessimistische Drama aus.

 

Am allerschlimmsten ist die Heuchelei: Die finale Predigt des orthodoxen Patriarchen ist daran kaum zu überbieten: Seine Schäfchen sollen nach der Wahrheit leben, der von ihm beratene Bürgermeister dagegen lügen.