Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 14. Mai 2015, Teil 1
Kirsten Liese
Berlin (Weltexpresso) - Der Anblick stimmt fassungslos: Bei einem Einsatz in einer Junkie-Wohnung entdecken zwei Polizisten ein Baby im Dreck seiner eigenen Fäkalien. Andreas (Nikolaj Coster-Waldau), selbst gerade Vater geworden, würde den verlotterten Eltern das dauernswerte Bündel am liebsten sofort abnehmen, aber so leicht geht das nicht. Solange der Säugling nicht unterernährt ist, schreiten die Sozialbehörden nicht ein.
Umso liebevoller umfängt Andreas zu Hause sein eigenes Baby. Der unaufhörliche Schreihals stellt ihn auf eine harte Probe, aber der junge Mann tut alles, was er kann, um ein idealer Vater zu sein. Nacht für Nacht fährt er mit dem kleinen Alexander über die Autobahn, damit er sich beruhigt und seine Frau Anna (Maria Bonnevie) endlich Schlaf findet.
Die Verhältnisse in den beiden Familien könnten kaum gegensätzlicher ausfallen, aber wer darüber schnell zu einem Urteil über gute und schlechte Eltern findet, befindet sich auf dem Holzweg. Denn Susanne Bier („In einer besseren Welt“) kommt bei solchen moralischen Fragen zu keinen einfachen Ergebnissen.
Das beginnt schon damit, dass „Zweite Chance“ ungeachtet vieler Schlagzeilen über Todesfälle von verwahrlosten Kindern kein Sozialdrama über eine Unterschichtfamilie à la „Ladybird, Ladybird“ entfaltet, sondern einen hochdramatischen, ungemein spannenden Thriller.
Mit dem scharfsichtigen Blick einer geschulten Psychologien analysiert die Oscarpreisträgerin das Verhalten ihrer Protagonisten, widmet sich dabei vorzugsweise dem gut situierten Paar mit subtilen Beobachtungen.
Als Andreas seine Frau einmal fragt, ob sie die Entscheidung für das Kind bereue, reagiert sie verdächtig aggressiv, als fühle sie sich bei einem unerlaubten Gedanken ertappt. Weil es nicht sein darf, dass eine junge attraktive Frau kein Mutterglück empfindet, kommt es zu folgenschweren Freudschen Fehlleistungen, eines Nachts liegt Alexander tot in seinem Bettchen. Eine unbehagliche Ahnung, dass die Mama an seinem Tod schuld sein könnte, stellt sich ein, aber was genau geschah, verrät die Dänin erst viel später.
Jedenfalls droht Anna panisch mit Selbstmord, sollte Andreas den Notarzt holen. In dieser fatalen Situation erfindet der Beamte für sich eine ungeheuerliche „zweite Chance“: Er tauscht das Baby der Junkies heimlich gegen seinen toten Sohn aus. – Eine Verzweiflungstat, die das ganze Dilemma eines Menschen offenbart, der stets das Richtige – und niemandem weh tun will.
Mit all solchen beunruhigenden Betrachtungen zur Elternschaft ist Biers jüngstes Werk ein sehr mutiger Beitrag zu den fatalen Auswirkungen eines übersteigerten Familienwahns. Komplexer und anspruchsvoller lässt sich ein derart sensibles Thema nicht verhandeln, bisweilen drängen sich unterschwellig im Zuge von Kindesraub und Kindesmord auch Assoziationen an antike Tragödien auf.
Dabei wirkt es ebenso glaubwürdig wie sympathisch, dass der Horrortrip unverhofft ein versöhnliches Ende findet. Susanne Bier entlässt einen mit der tröstlichen Zuversicht, dass auch eine späte Einsicht noch manches retten kann.