Das 50. Karlovy Vary Filmfestival und seine Entscheidungen
Kirsten Liese
Karlsbad (Weltexpresso) - Auf den Straßen ist es grau und matschig, in den Wohnstuben erinnern sich die Familienältesten an Pogrome. Und ein sensibler, fantasiebegabter, in der Schule von einem Rabbi malträtierter Junge entdeckt seine Liebe für ein verwaistes Nachbarmädchen.
Der ukrainische Wettbewerbsbeitrag „Song of Songs“, den Karlovy Vary in einer Weltpremiere zeigte, ist mit kontemplativen Impressionen aus einem jüdischen Shtetl ein Beleg dafür, dass Filmkunst nicht unweigerlich einer Handlung bedarf, dass Bilder von zarter Poesie und Schönheit ohne Musik noch umso stärker wirken können. Im osteuropäischen Autorenkino lassen sich solche stillen, atmosphärischen Kleinode häufiger finden als im Westen, und das zeigt sich nirgendwo sonst so deutlich wie in dem kleinsten unter den europäischen A- Festivals.
Zwischen der ukrainischen Studie und Dietrich Brüggemanns anspruchsloser Blödelsatire „Heil“, die nach ihrer Premiere in München leider auch als einziger deutscher Wettbewerbsbeitrag in Karlsbad lief, liegen Welten. Und auch das unabhängige Kino aus Kanada und den USA hinterließ in der 50sten Ausgabe einen beschämend schwachen Eindruck.
Insofern befremdet es, dass die Jury unter dem Vorsitz des amerikanischen Produzenten und Filmtheaterbetreibers Tim League den Kristallglobus für den besten Film ausgerechnet an den Beitrag vergab, der zu Recht in den Kritikerrankings das Schlusslicht bildete: „Bob and the Trees“, ein Dokufiction-Drama um einen Holzfäller aus Massachusetts, der sich selbst spielt.
Der Regisseur Diego Ongaro hat aus der unspektakulären Geschichte um diesen Bob Tarasuk, der für den Fehlkauf eines großen Waldgrundstücks bitter büßt, weil die Bäume von Schädlingen und Ameisen überwuchert sind, zunächst einen Kurzfilm gemacht. Dabei hätte er es belassen sollen, auf 90 Minuten gestreckt, wirkt „Bob and the Trees“ zu langatmig.
Überraschend auch der Große Preis der Jury für den österreichischen Beitrag „Jeder der fällt hat Flügel“. Eine junge Frau, die an schweren Alpträumen leidet, und ihre geliebte Großmutter, an die sie sich verzweifelt klammert, sind die Protagonistinnen dieser zähen Studie, die mit Texten von Ingeborg Bachmann einen hohen Anspruch suggeriert, diesen aber nicht einlöst. Zwar schildert Regisseur Peter Brunner die Beziehung zwischen Oma und Enkelin mit zärtlichen Blicken und Gesten, aber er belässt es bei einer Zustandsbeschreibung. Was die junge Frau quält, was ihren Weltschmerz verursacht, bleibt sein Geheimnis. Stattdessen lässt er den leisen Film unmotiviert in einer grausamen, blutigen, endlos langen Szene explodieren, die jedem Tierfreund auf den Magen schlägt. Auf der Pressevorführung verließen Scharen das Kino, als die Protagonistinnen einen prächtigen Karpfen töten und minutiös sezieren. Man mag nur hoffen, dass das Tier nicht eigens für diesen Film sterben musste, zumal sich aus dieser Szene auch keine tieferen Erkenntnisse zur Psychologie der Figuren ableiten lassen.
Die facettenreiche Filmkunst aus Osteuropa, die - obwohl zunehmend auch von anderen A-Festivals sehr umworben - in Karlsbad immer noch stark vertreten ist, befriedigt weitaus höhere Ansprüche. So porträtiert etwa der Tscheche Slávek Horák in seinem bemerkenswerten Erstling „Home Care“, inspiriert von seiner eigenen Mutter,eine gutmütige, liebenswerte, willensstarke Frau. Als mobile Fürsorgerin geht sie zu alten, pflegebedürftigen Senioren in die Wohnungen, auch dann noch, als sie eines Tages an einer tödlichen Krankheit leidet und selbst der Zuwendung bedarf. Der Film lebt vor allem von der starken Persönlichkeit der Hauptdarstellerin Alena Mihulová, die in diese Rolle viel Charisma, Charme und Lebenserfahrung hineinträgt. Verdient gewann sie einen Kristallglobus als beste Hauptdarstellerin.
Dagegen blieb der packende polnische film noir „The Red Spider“ bei der Jury gänzlich unbeachtet. Im kommunistischen Krakau um 1967 sucht hier ein erfolgreicher, gelangweilter Turmspringer geradezu manisch den Kontakt zu einem Serienmörder, der in ihm eigene abgründige Obsessionen weckt. Am Ende begeht der junge Mann zwar keinen Mord, stellt sich der Polizei aber als der vermeintliche Täter in Erwartung der Todesstrafe.
Bei aller Rätselhaftigkeit wirkt das ungewöhnliche Verhalten des Protagonisten jedoch nicht aus der Luft gegriffen. Wie Roman Polanski und Michael Haneke, deren düstere Werke für den Regisseur Marcin Koszalka als Vorbilder dienten, führt hier vielmehr eine psychologische Analyse in tiefe Schichten des Unterbewussten.
Karlovy Vary zeigte auch Beiträge zu brisanten politischen Debatten, zum Beispiel das mit deutschen Koproduktionsgeldern geförderte Drama „Babai“ aus dem Kosovo, für das Visar Morina den Preis für die beste Regie gewann. Es spielt Mitte der 1990er Jahre, zeigt aber auch sehr heutige Bilder von Flüchtlingen in Lastwagen und überfüllten Schlauchbooten, die sich illegal über die Grenzen schmuggeln. Insofern erstaunt es, dass Morina die politische Bedeutung seines Films auf der Pressekonferenz herunterspielt, zumal einige Szenen sehr unmenschliche Zustände in einem deutschen Asylantenheim zeigen. Tatsächlich ist Morina sogar der Ansicht, die deutsche Asylpolitik liege noch heute sehr im Argen und hört es gar nicht gern, dass Deutschland eisern die Freizügigkeit verteidigt und heute weit mehr Flüchtlinge aufnimmt als vergleichsweise EU-Länder aus Osteuropa. Seltsam.
Der Regiepreis für „Babai“ ist wohl auch politisch zu deuten. Man mag Morina zugute halten, dass er allemal einfühlsam schildert, wie ein zehnjähriger Junge wütend seinem Vater hinterher reist, der heimlich nach Deutschland geflohen ist. Doch hat man schon zahlreiche ähnliche Geschichten gesehen, denkt man an Filme wie „In this World“ von Michael Winterbottom, „Welcome“ von Philippe Lioret oder „Der Junge Siyar“ von Hisham Zamam.
Die italienische Dichterin Antonia Pozzi (1912-1938), die aus einem vornehmen Mailänder Elternhaus stammte, an Depressionen litt, leidenschaftliche Beziehungen zu Männern und Frauen hatte, Verse voller Sinnlichkeit schrieb und sich in jungen Jahren das Leben nahm, ist dagegen außerhalb Italiens kaum bekannt. Ihr hat Ferdinando Cito Filomarino ein wunderbares, feinfühliges Porträt gewidmet, durchdrungen von schmerzvoller Poesie und atemberaubend schönen Bildern („Antonia“). Es war diesem Jahrgang der stärkste Wettbewerbsfilm aus einem westlichen Land.
Foto:
Unser Bild zeigt die italienische Dichterin Antonia Pozzi. Das Bild stammt nicht aus dem Film.