Serie: FILMKLASSIKER wiedergesehen, Teil 1
Claus Wecker
Wiesbaden (Weltexpresso) - Vielleicht hat er seine Verlobte überraschen wollen, vielleicht wollte er sich auch heimlich aus dem Staub machen. Klar wird nicht, warum der Vertreter Peter Winkler seiner Hella verschwiegen hat, dass er am nächsten Tag nach Dresden fahren wird, um dort eine neue Stelle anzutreten.
An dem Abend, an dem der Film ABSCHIED mit wenigen Zeitschnitten spielt, will Hella ihren Peter überraschen. Sie hat sich ein neues Kleid gekauft und einen Hut angezahlt. Weil ihr Geld nicht mehr ausgereicht hat. Voller Stolz erzählt sie Frau Weber, der Wirtin der Berliner Pension „Splendide“, von ihrem Einkauf. Doch Frau Weber rutscht heraus, dass ihr Verlobter im Begriff ist, seine Zelte in der Pension abzubrechen. Jetzt ist es an Hella, überrascht zu sein.
Frau Weber ist eine Klatschtante, die der Teufel reitet, wenn sie über ihre Mieter herzieht. Die Pension, die sie führt, ist eine Etage in einem Berliner Altbau, bevölkert von einem bunten Grüppchen hoffnungsvoller junger Menschen und lebenserfahrener älterer Herren. Ein junger Pianist spielt unentwegt den „Abschiedswalzer“. Es ist alles angerichtet für ein Melodram der Extraklasse.
ABSCHIED, dieser deutsche Film aus dem Jahr 1930, der gerade wieder einmal im Murnau Filmtheater in Wiesbaden zu sehen war, ist solch ein wunderbares Melodram von einem Regisseur, der später durch seine amerikanischen Filme der Schwarzen Serie bekannt geworden ist. Robert Siodmak hat im selben Jahr auch an MENSCHEN AM SONNTAG, einem Meilenstein des halbdokumentarischen Spielfilms, mitgewirkt. Wie man ja sagen muss, dass in den Jahren 1930 bis 1933 mit den ersten Tonfilmen mehr als ein Dutzend Meisterwerke in Deutschland entstanden sind.
Viele dieser Filme profitieren ganz besonders von ihren Schauspielerinnen, die jung, frisch und ungezwungen auf der Leinwand glänzen. In ABSCHIED ist es die 1911 in Berlin-Dahlem geborene Brigitte Horney in ihrer ersten Filmrolle. In acht Tagen sei der Film gedreht worden, hat sie später gesagt – und die gewissenhafte Vorbereitung gelobt: „Zuerst wurde der ganze Film durchprobiert, damit jede Szene vor der Kamera sofort richtig saß.« Der Kameramann Eugen Schüfftan, der 1960 einen Oscar für HAIE DER GROßSTADT (The Hustler) gewinnen sollte, war schon bei MENSCHEN AM SONNTAG im Team. Erstaunlich, wie er in ABSCHIED – der Film spielt ausschließlich in besagter Pension – stets neue Perspektiven findet, sodass man die sonst üblichen Außenaufnahmen überhaupt nicht vermisst.
Für Brigitte Horney ist die Rolle der Hella ein fulminanter Start zu einer großen Leinwandkarriere. Die UFA bietet ihr einen Vertrag über 3.000 Mark im Monat an, den sie auf Anraten ihrer Schauspiellehrerin Ilka Grüning ablehnt. "Du hast noch viel zu lernen. In Würzburg lernst du es. Der Film läuft dir nicht davon", soll die erfahrene Grüning gesagt haben. Also geht die junge Horney nach Würzburg ans Theater, und man kann es nur bedauern, dass es keine Aufzeichnungen von ihren dortigen Auftritten gibt.
In ABSCHIED ist ihr jedenfalls schon unter Siodmaks Regie eine perfekte Balance zwischen jugendlicher Naivität und weiblicher Selbstbehauptung gelungen. Ein faszinierendes Gesicht mit hohen Wangenknochen und großen Augen, von einer jungen Frau, die sich unbändig freuen kann. Dann strahlt ihr Gesicht einzigartig. Mit ihrem Filmpartner, dem 25-jährigen Aribert Mog, der den Peter Winkler spielt, liefert sie sich ein spielerisches Gekabbel. Er will von seinem Verschweigen ablenken und fragt Hella nach der Zahl der Liebhaber, die sie vor ihm gehabt habe. Er gibt den eifersüchtigen Liebhaber, sie die schlagfertige Kontrahentin. Ein Missverständnis liefert ihm am Ende den Anlass, vorzeitig und ohne Verabschiedung abzureisen.
Mit einer Notlüge wird die verlassene Hella von einem verarmten russischen Baron (Wladimir Sokoloff) getröstet. Ihr Verlobter lasse sie grüßen und habe einen Ring – in Wahrheit das letzte Erbstück des Barons – als Abschiedsgeschenk bei ihm hinterlegt. Mit großen, traurig-ungläubigen Augen schaut Hella am Ende in die Kamera. Jede Freude ist aus ihrem Gesicht verschwunden.
Der UFA war das zu traurig. Ohne Zustimmung des Regisseurs wurde ein Happy End angefügt, das in der digitalisierten Fassung als Bonus zu sehen ist – und das Zeug dazu hat, einem den ganzen Film zu verderben. Man sollte es als ein Beispiel für Produzenten-Dummheit in frühen Jahren der Filmgeschichte nehmen und sich nicht die melancholische Stimmung nehmen lassen, die dieser großartige Film auslöst.
Info:
Das Murnau Filmtheater am Wiesbadener Hauptbahnhof ist die Spielstätte der Murnau Stiftung, die das deutsche Filmerbe verwaltet. Ausgewählte Filme aus deren Bestand von rund 6.000 Titeln sind dort mittwochs, samstags und sonntags zu sehen. Dieses Angebot an deutschen Klassikern ist einmalig in der hiesigen Kinolandschaft.
Programm unter www.murnau-stiftung.de