Martin Walser im Gespräch mit Thea Dorn am Sonntag, 28. August, 0.10 Uhr

Felicitas Schubert

München (Weltexpresso) - Martin Walser, mittlerweile fast 90 Jahre alt und in letzter Zeit wenig in der Öffentlichkeit, ist der letzte "Großdichter" der alten Bundesrepublik. Ungern gibt er Interviews zu seiner Person. Doch der Publizistin Thea Dorn steht er für ZDF-"Zeugen des Jahrhunderts" Rede und Antwort. Das ist wichtig, denn seine Stimme ist gewichtig, weil er auch zu seinen Irrtürmern steht, d.h. solche zugibt. Außerdem sind wir eine Aficonada seiner Romane.

 

Über Martin Walser

1927 als Sohn eines Gastwirtes am Bodensee geboren, musste Martin Walser bis in die 70er Jahre warten, um zum literarischen Durchbruch zu gelangen. Mit "Ein fliehendes Pferd" legte er 1978 nach Kritikermeinung ein "Glanzstück deutscher Prosa" vor, das zudem ein Bestseller wurde. Zusammen mit seinen Schriftstellerkollegen Heinrich Böll, Günter Grass und Siegfried Lenz hat Walser das literarische Leben im alten Westdeutschland mitgestaltet und geprägt.

In den 60er Jahren galt er als "Linker", dann wieder bekannte er sein Leiden an der deutschen Teilung, was ihm das Etikett des "Rechten" einbrachte. Seine Dankesrede zum "Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998" geriet zum Eklat und war nicht nur in den Feuilletons umstritten. Der Vorwurf des "latenten Antisemitismus" hat ihn seitdem immer wieder eingeholt. Bis heute ist Walser ein politischer und streitbarer Zeitgenosse. Im Gespräch mit der Publizistin Thea Dorn gibt er Einblicke in sein Denken und Fühlen.

 


Zitate aus dem Gespräch

Selbstverständnis als Schriftsteller:

"Ich wollte nie Schriftsteller werden, das gab es gar nicht in meiner Vorstellung. Ich musste einfach schreiben."

"Damals hieß es, Literatur muss gesellschaftskritisch sein, das war ihre Hauptfunktion. Als ich den Hesse-Preis (1957 für "Ehen in Philippsburg") in Empfang nehmen durfte, habe ich in meiner Rede geschrieben, dass ich das für eine törichte Ansicht halte, da ein Autor sich nicht in einer außenstehenden Situation befindet, von der aus er die Gesellschaft kritisch beurteilen könnte, sondern er ist mittendrin. Er kann nur über sich in der Gesellschaft schreiben."



Begegnung mit Willy Brandt 1961:

"Im Wahljahr 1961 wusste ich, ich musste mich politisch entscheiden, da ich nicht irgendjemand war in Deutschland. Ich habe also darum gebeten, Willy Brandt während seiner Wahlkampfreise sprechen zu dürfen. Meine wichtigste Frage war: Was tut die SPD, um Deutschland aus der Vietnamkriegspropaganda herauszuhalten? Herr Brandt hat gesagt, ich müsse mir gar keine Gedanken machen. Der britische Außenminister Brown wäre gerade auf dem Weg nach Moskau und im Herbst gäbe es diesen Krieg nicht mehr. Da wusste ich, das ist nicht wahr und habe mich ab sofort nicht mehr für SPD Angelegenheiten eingesetzt."



Erinnerungen als Besucher der Auschwitz-Prozesse 1963 in Frankfurt/Main:

"Ich habe für meinen Essay zu den Auschwitz-Prozessen, bei denen ich dabei war, den Titel gewählt 'Unser Auschwitz' als Reaktion auf die gesellschaftliche Meinung zu den Angeklagten, die als Bestien und Teufel verschrien waren. Ich habe gesagt 'Unser Auschwitz', denn das sind Leute wie du und ich, mit gleicher Sprache und Biografie, und wir müssen uns doch fragen, wie ist das möglich (…)."

"Wenn man mehrere Tage bei dem Auschwitzprozess zugesehen hat, hat man allmählich mitbekommen, wie deutsch-perfekt Auschwitz organisiert war. (…) Da darf man sich auch fragen: Wenn das deutsch ist, was ist in dir dann das Deutsche?
Ich habe später noch einen Aufsatz geschrieben: 'Auschwitz und kein Ende', mit Bezug auf einen Aufsatz des jungen Goethe 'Shakespeare und kein Ende'. Denn das ist der Unterschied: Goethe konnte schreiben 'Shakespeare und kein Ende', wir müssen schreiben 'Auschwitz und kein Ende'."



Auschwitz und die Frage der deutschen Teilung:

 "Ich habe gespürt, dass ich mit dem, was da in Auschwitz passiert ist, anders umgehen muss als zum Beispiel Fernsehredakteure. (…) Das wichtigste war die Formulierung 'die Instrumentalisierung von Auschwitz', womit ich meine Kollegen Jens und Grass gemeint habe, die die Teilung von Deutschland als gerechte Strafe für Auschwitz gesehen haben. Und davor darf ich warnen, denn der Grund der deutschen Teilung ist nicht Auschwitz. Aber diese Formulierung wurde falsch verstanden. (… ) Das ist bedauernswert, dass es mir nicht gelungen ist, dieses Missverständnis aus der Welt zu schaffen."



Leiden an der deutschen Teilung:

 "Ich wollte die deutsche Teilung nicht hinnehmen, denn ich wollte nicht ertragen, dass Schriftsteller wie Karl May aus Sachsen und Nietzsche aus Thüringen plötzlich Ausländer sein sollten."


Rückschau auf das bisherige Leben:

"Ich würde nach allem was mir passiert ist, nicht zwingend sagen, dass das Schicksal es gut mit mir gemeint hat. Natürlich ist mir dauernd etwas passiert, dass ich mich auf eine bestimmte Weise verhalten musste und es ging auch immer weiter, aber es war doch furchtbar schwer."



Foto: (c) ZDF


Info:

Die merkwürdige Uhrzeit um kurz nach Mitternacht, die die meisten, die am übernächsten Tag arbeiten müssen, abschrecken wird, kann man sich nur so erklären, daß auf Teufel komm raus der ehrwürdige Martin Walser an Goethes Geburtstag zu Wort kommen soll. Das hat er gar nicht nötig, eine vernünftigere Uhrzeit wäre an jedem anderen Datum sinnvoller gewesen, auch wenn es sicher Wiederholungen geben wird. Das hoffen wir zumindest.


Nach der Sendung (ca. 45 Min.) ist unter www.jahrhundertzeugen.zdf.de das gesamte dreistündige Gespräch verfügbar.