Nachbemerkungen zu den Internationalen Stummfilmtagen in Bonn

Claus Wecker

Bonn ((Weltexpresso) - Actionfilme gab es schon zu Stummfilmzeiten. Davon konnte man sich im August beim 32. Bonner Sommerkino überzeugen. Im Rahmen dieses reinen Stummfilmfestivals war „Mister Radio“ von 1924 im Arkadenhof der Universität zu sehen. Ein Film, der, gerade erst aufgefunden und vom Wiener Filmmuseum restauriert, es höchstens zu einer Fußnote in der Filmgeschichte bringen könnte.

Doch Entdeckungen jenseits von „Nosferatu“ oder „Metropolis“ sind bei dieser elftägigen Veranstaltung unter freiem Himmel in jedem Jahr zu machen.


Bei „Mister Radio“ (D 1929) handelt es sich um einen, in mehrfacher Hinsicht, ungewöhnlichen Film. Auf dem Regiestuhl saß bei dieser deutschen Produktion der Italiener Nunzio Malasomma, und die Hauptrolle, eben jenen Mister Radio, spielte ebenfalls ein Italiener, Luciano Albertini, der zuvor auch als Zirkusartist aufgetreten war. Die italienische Filmindustrie habe zu dieser Zeit nicht so viele Arbeitsmöglichkeiten geboten, erläuterte der Mitbegründer und jetzige Kurator des Festivals, Stefan Drößler, zu Beginn der Vorführung.


Albertini spielt einen Erfinder, der zusammen mit seiner Mutter, in einem Turm lebt, wo er an einer Erfindung arbeitet, die Eisenbahnunfälle unmöglich machen soll. Die exponierte Lage des Turms, der auf einem hohen Felsen im Elbsandsteingebirge steht, gibt Anlass zu einigen waghalsigen Aktionen des Helden, dem im damaligen Film-Kurier „überragende artistische Fähigkeiten“ und „vollendete Eleganz“ bescheinigt wurde.


Zwei Filme von Victor Fleming zeigen die Entwicklung der Erzählkunst im Stummfilm. „When the Clouds Roll by“ (Fairbanks ist verrückt, USA 1919) ist eine überdrehte Komödie, in der Douglas Fairbanks (auch er in späteren Filmen ein Actionheld) das Versuchskaninchen eines Psychiaters spielt, an dem bewiesen werden soll, dass ein abergläubischer, ansonsten aber ganz normaler Mann in den Wahnsinn getrieben werden kann. Dr. Caligari à l’américaine – mit glänzenden Einfällen wie der Animationsszene mit einer tanzenden Zwiebel in Fairbanks’ Magen, aber bisweilen etwas holpriger Handlung. Dagegen ist „Mantrap“ (Der Weiberfeind), im Jahr 1926 entstanden, eine elegant inszenierte, dynamische Dreiecksgeschichte mit Clara Bow als It-Girl, einer selbstbewussten jungen Großstadtfrau. Sie versucht, ihrem hinterwäldlerischen Gatten (Ernest Torrence) mit einem Scheidungsanwalt (Percy Marmont) in die Stadt zu entfliehen, um dort das Leben zu genießen. Am Ende hat der Ehemann seine chronisch flirtende Gattin wieder und der Anwalt einiges über den Umgang mit kapriziösen Frauen gelernt.


Immer wieder kann man feststellen, dass die Filme in den Zwanzigern des vorigen Jahrhunderts schon einen hohen formalen Standard erreicht hatten, noch bevor der Tonfilm kam. Regisseur Fleming bewältigte den Übergang mit Bravour und entwickelte sich zum Hollywood-Routinier, der von David O. Selznick zu Hilfe gerufen wurde, als die Dreharbeiten zu „Gone with the Wind“ (Vom Winde verweht, USA 1939) nicht zu dessen Zufriedenheit verliefen und das ganze Unternehmen zu scheitern drohte. Für seine Leistung erhielt er die alleinige Nennung als Regisseur und einen von insgesamt acht „Gone with the Wind“-Oscars.


Ein Pfund, mit dem die Stummfilmtage wuchern können, ist die riesige Leinwand. So erhält manch langsames Werk, das man im Fernsehen nach kurzer Zeit wegzappen würde, seine magische Wirkung zurück. Z. B. „Scherben“ von Lupu Pick, die Geschichte eines Bahnwärters, dessen Tochter von einem angereisten Bahninspektor verführt wird. Die sorgfältig komponierten Bilder entfalteten trotz der langsamen Erzählweise einer schlichten Geschichte ihre Wirkung und fesselten auch jetzt wieder die Zuschauer bis zum Ende.


Ein »volles Haus« gab es am Chaplin-Abend. Vorzeitig musste der Hof geschlossen werden, so groß war der Andrang zu „One A.M.“ (Ein Uhr nachts, USA 1916) und „The Pilgrim“ (Gehetzte Unschuld, USA 1923). Ob er als heimgekehrter Betrunkener mit der Tücke des Objekts kämpft oder als falscher Pfarrer die Geschichte von David und Goliath pantomimisch vorträgt, Chaplin ist zu Recht eine Legende. Über welchen heutigen Komiker wird wohl in hundert Jahren noch so begeistert gelacht werden?


Dass die Bonner um Sigrid Limprecht, die mittlerweile die Leitung übernommen hat, und Stefan Drößler, jetzt Chef des Filmmuseums München, einen wichtigen Beitrag zur Popularisierung des Filmerbes leisten, hat sich sogar bis nach Berlin herumgesprochen. Die einzigartige Veranstaltung wird von der Staatsministerin für Kultur und Medien gefördert. Und vom Land Nordrheinwestfalen sowie der Stadt Bonn. Es ist noch nicht lange her, da stand die Finanzierung auf der Kippe, auch weil die Bonner keinen Eintritt verlangen und  an Vorführ-Aufwand (es laufen neben neuen digitalen Projektionen noch „klassische“ 35mm-Zelluloidkopien aus internationalen Archiven) und musikalischer Begleitung (in der Regel mit exzellenten Pianisten) nicht sparen. Qualität setzt sich durch, und bei dem hohen Besucherzahlen – in diesem Jahr wurden 24.000 Zuschauer gezählt – sind im Lauf der Jahre einige tausend Stummfilm-Freunde neu hinzugewonnen worden.


Foto:aus dem Film MANTRAP von 1926

 

Info:
Das Filmmuseum München wiederholt die Stummfilmtage vom 1. bis 7. September.
Infos unter www.internationale-stummfilmtage.de oder www.muenchner-stadtmuseum.de/film/filmreihen/internationale-stummfilmtage.html