Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 29. September 2016, Teil 10

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Schaurig ist das, was wir als Schicksal von Ernst Lossa im Film erfahren, noch schauriger, daß es auf einer wahren Begebenheit beruht und von der zynisch Euthanasie (??, gut, richtig, leicht, schön; und ???????, der Tod, also der gute, richtige, leichte und schöne Tod) genannten  Ermordung von zahlreichen Menschen im Nazireich handelt, die als lebensunwert „euthanisiert“ wurden.


Ob Geisteskranke, psychisch Labile oder einfach Unangepaßte und nicht in allem der gesellschaftlichen Norm entsprechend, sie wurden eingesperrt in Kliniken oder Erziehungsheimen oder sonstigen Anstalten, auf jeden Fall aus dem gemeinsamen Leben in der Öffentlichkeit erst isoliert, dann drangsaliert, dann ermordet. Hier im Film aber geht es um ein ganz bestimmtes Kind, einen Jungen. Es geht um den 13jährigen Ernst Lossa (ungemein eindrucksvoll Ivo Pietzker), dessen Vater (eindringlich zum Gotterbarmen Karl Markovics) als fahrender Händler das mutterlose Kind nicht ständig bei sich behalten kann und der, als aufgeweckter und unangepaßter Junge, zudem nicht dem stromlinienförmigen Erziehungsziel der Nazis – aber auch nicht den kleinbürgerlichen Auffassungen der meisten deutschen Familien – entsprach, weshalb er als 'asozial' und 'schwer erziehbar'  in diese Nervenheilanstalt abgeschoben wird.

Die wahre Begebenheit ist von Robert Domes als Lebensgeschichte von Ernst Lossa im cbj Verlag als Taschenbuch 2008 erschienen und wird im Oktober mit Filmbildern neu aufgelegt. Der Film allerdings nimmt dramaturgisch einen leicht anderen Weg. Das muß auch so sein, denn das filmische Geschehen hat seine eigene Erzählnotwendigkeit. Wir beobachten im Film also das Ankommen von Ernst in dieser Heilanstalt - auch das Wort 'heilen', was ja etwas Gutes meint, wird hier zum Hohn. Sprache ist wirklich verräterisch. Man muß nur deutlich hinhören.

Verräterisches blitzt auch immer wieder zwischendurch im sympathischen Leiter der Nervenheilanstalt auf, einem Dr. Walter Veithausen, dem Sebastian Koch ebenfalls sein erst einmal sympathisches Gesicht leiht. Denn er scheint der einzige zu sein, der erkennt, daß in Ernst ein intelligenter Bursche steckt, mit dem man nur menschlich und korrekt umgehen muß und der dann seine Faxen sein läßt. Denn der Gemeinheiten der Aufseher weiß sich das clevere Bürschchen schon zu wehren, woraufhin die noch gemeiner werden und schon wieder ist es er, der als auffällig negativ bewertet wird.

Aber auch innerhalb der Belegschaft, hier innerhalb der Kinder und Jugendlichen herrscht ein aggressiver gemeiner Ton. Nur einige sind anders. Das spürt Ernst sehr schnell und er erkennt vor allem, daß er 'normal' ist, aber beispielsweise die zarte Nandl (Jule Hermann),  mit Epilepsie geschlagen,  immer wieder Hilfe braucht. Die beiden so unterschiedlichen kleinen Menschen freunden sich an.

Auch zwischen dem Anstaltsleiter und Ernst herrscht ein besonderer Ton. Der läßt dem Jungen mehr Freiraum als andere und setzt ihn auch immer wieder als Helfer in seinem System ein. Wenn man erst einmal in Ruhe die sozialen Bande der Anstaltsinsassen – ja, das Wort muß sein – hier erlebt hat, wie sie miteinander und mit den Pflegern auskommen, wird das, was kommt, noch grauenvoller, weil einem einsichtig wird, wie mörderisch die Nazipolitik gerade mit den Menschen umgegangen ist, die Hilfe brauchen. Aber so weit sind wir noch nicht.

Wir erleben erst einmal, daß Ernst täglich auf den Vater wartet. Denn der hatte versprochen, zu kommen. Und er kommt auch. Und wie versprochen will er Ernst mitnehmen, denn das war ja ausgemacht, daß er  mit ihm geht, doch dann fällt dem - inzwischen einem schon ganz schön verdächtig vorkommenden  -  Anstaltsleiter Dr. Veithausen auf, daß dem Vater ein Papier fehlt, nämlich die Aufenthalts-/Meldebestätigung. Gerade die kann der Vater jedoch auf Grund seiner Tätigkeit als ambulanter Händler, als 'Jenischer' nicht beischaffen, weshalb er seinen Sohn nicht mitnehmen darf, dem aber verspricht, das Papier zu besorgen und ihn dann schleunigst abzuholen.

Kleiner Exkurs zu den 'Jenischen', mir zuvor völlig unbekannt, die man mit fahrenden Gesellen - in der Vergangenheit Zigeuner genannt, von denen man heute als Sinti und Roma spricht - in einen Topf warf. Doch die, das lernen wir jetzt, haben mit den 'Jenischen' nichts zu tun. Hierbei handelt es sich nämlich um eine Bevölkerungsgruppe in Westeuropa, die von sich sagen, daß sie von den Kelten abstammen. Also nach Nazijargon absolut 'rassenrein'. Die Jenische betrachten sich als eigenes Volk mit eigener Geschichte und eigener Sprache.  Sie sind grundsätzlich nicht seßhaft - also gleichermaßen wie die Beduinen in der Wüste und die europäischen Zigeuner früher – und nicht nur als fahrende Händler unterwegs, sondern auch als Handwerker, Wahrsager, Schausteller und Künstler. Die NS-Ideologie hat sie im Rassenhaß und der sogenannten Rassenhygiene durch Zwangssterilisation, Zwangsabtreibung und „Euthanasie“ vernichtet.

Fortsetzung folgt.

 

Kommentar: Es bietet sich absolut an, hier von den nicht zustandegekommenen Euthanasieprozeßen zu sprechen, die der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in den Sechzigern anschob. Sie sollten seine eigentliche Abrechnung mit dem menschenverachtenden Nazisystem sein. Es böte sich hier sich an - und ein andermal kommt das auch ausführlicher. Nur ist diesmal das Thema durch die hervorragende Aufarbeitung von Regisseur und Drehbuch schon so umfangreich zum Abdruck vorbereitet, daß wir auf Fritz Bauer und seinen Kampf um die ärmsten Opfer der Nazischergen ein andermal eingehen wollen. Schade, daß im guten Presseheft auf ihn und seinen Kampf, der in der BRD, hierin einzig steht, nicht verwiesen wird. Das Schlimme ist ja, daß diese mordenden Ärzte, diese Herren - es waren fast nur Männer - auch nach 1945 die Posten überall dick einnahmen, bei den Privatpraxen, in den Verbänden, in den Ministerien, in den Hochschulen. Eine Schande, aber wie so vieles weithin nicht bekannt.

Foto: Ernst Lossa (Ivo Pietzcker) und Dr. Walter Veithausen (Sebastian Koch)

Info: NEBEL IM AUGUST

Regie: Kai Wessel
Drehbuch: Holger Karsten Schmidt
nach Motiven des gleichnamigen Tatsachenromans von Robert Domes

mit
Sebastian, Koch, Fritz Haberlandt, Henriette Fonfurius, David Bennent, Karl Markovics
und Ivo Pietzcker als Ernst Lossa


Eine Ulrich Limmer Produktion u.a. STUDIOCANAL Film