Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 29. September 2016, Teil 13
Filmheft
Berlin (Weltexpresso) – Zwischen 1939 und 1945 wurden in deutschen Heil- und Pflegeanstalten mehr als 200.000 Patienten getötet. Die NS-„Euthanasie“ wörtlich: „guter Tod“) bedeutete die systematische Vernichtung von Leben, das als „lebensunwert“ abgewertet wurde und keinen Nutzen für die „Volksgemeinschaft“ brachte, sie vielmehr Geld kostete.
Die ersten Opfer waren Kinder: Seit August 1939 sollten Hebammen, Geburtshelfer und Mitarbeiter von Entbindungsstationen Behinderungen melden. Die Heil- und Pflegeanstalten gründeten spezielle „Kinderfachabteilungen“, hier wurden bis 1945 insgesamt 5.000 Kinder ermordet.
Die systematische Tötung auch erwachsener Patienten begann im Oktober 1939 mit einem Erlass Hitlers, der gerade mal einen Satz umfasste. Das Schreiben datierte er auf den 1. September 1939 zurück, den Tag des Kriegsbeginns. Damit begann eine Aktion, die nach dem Krieg „T4“ genannt wurde, nach der Adresse einer Villa in der Berliner Tiergartenstraße 4. Hier saßen vier eigens gegründete Gesellschaften mit Tarnnamen wie „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ oder „Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft“.
Sie organisierten den Krankenmord. Die Leiter von Heil- und Pflegeanstalten mussten für alle Patienten Meldebögen ausfüllen. Sie äußerten sich darin zu Diagnose, Tätigkeit der Patienten und anderen Kriterien. Die Bögen schickten sie nach Berlin, und andere psychiatrische Gutachter setzten Zeichen darauf: Ein blaues Minus bedeutete Überleben, ein rotes Plus Tod. Die „Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft“ brachte die Patienten in Bus oder Eisenbahn in sechs Tötungsanstalten. Dort wurden sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in Gaskammern ermordet. Über 70.000 Menschen kamen so ums Leben. Das Verfahren bereitete die Ermordung der europäischen Juden technisch und organisatorisch vor.
Jüdische Psychiatriepatienten waren es auch, die bei der „Euthanasie“-Aktion in vielen Teilen Deutschlands zuerst ermordet wurden. Für sie galt nur ein Selektionskriterium: Sie wurden getötet, weil sie Juden waren. Außerdem starben seit 1941 auch arbeitsunfähige
KZ-Häftlinge in den Tötungsanstalten.
Im August 1941 stoppte Hitler die Aktion „T4“. Seit Anfang des Jahres verbreiteten sich Informationen über die Morde in der Bevölkerung und führten zu Unruhe und Protest, auch eine Predigt des Münsteraner Bischofs von Galen zeigte Wirkung. Der Stopp der zentral
gesteuerten Aktion bedeutete aber nicht das Ende der „Euthanasie“. Von nun an ermordeten Ärzte, Pfleger und Schwestern die Psychiatriepatienten direkt in den Anstalten, mit Gift und ab 1943 auch gezielt mit einer fast nährstofflosen Kost: Die Menschen verhungerten oder starben, nachdem sie geschwächt an Tuberkulose erkrankten. Die Organe vieler Toter missbrauchten die Ärzte zu Forschungszwecken. In manchen psychiatrischen Anstalten unternahmen Ärzte auch Experimente an lebenden Menschen.
Als die NS-Gesundheitsbehörden dann im Laufe des Luftkrieges immer größere Probleme hatten, Krankenhausbetten für die Verwundeten und Kranken zu finden, ließen sie Psychiatrien in stark bombardierten Gegenden räumen, um Platz für Verletzte und Kranke
zu machen. Die Psychiatriepatienten verlegten sie in andere Anstalten, viele von ihnen wurden dort ermordet. Zu den insgesamt über 200.000 Opfern in deutschen Psychiatrien kamen geschätzt weitere 100.000 Opfer in den besetzten Gebieten Europas.
Die Hintergründe der „Euthanasie“-Morde werden in der Forschung unterschiedlich interpretiert. In jedem Fall waren sie eine radikale Konsequenz des national-sozialistischen Gesellschaftsbildes: Darin wurden Menschen hinsichtlich ihres Wertes für die „Volksgemeinschaft“ unterschieden – in wertvoll oder nutzlos. Hier spielten die Rassenzugehörigkeit und genetische Voraussetzungen eine entscheidende Rolle, doch die Frage lautete zugleich: Welchen wirtschaftlichen Nutzwert hat ein Mensch für die „Volksgemeinschaft“? Hinsichtlich des Krankenmords spielte diese Kosten-Nutzen-Rechnung eine entscheidende Rolle.
Wer keinen Beitrag zum Wohl der „Volksgemeinschaft“ leisten konnte, wer sie vielmehr als „unnützer Esser“ ökonomisch belastete, dem wurde das Recht auf Leben abgesprochen. Dem entsprachen die Selektionskriterien der Aktion „T4“, nach denen über Leben oder Tod in den Anstalten entschieden wurde. Das im Durchschnitt wichtigste Kriterium war die Arbeitsfähigkeit der Patienten: Wer ökonomisch brauchbar war, dessen Überlebenschancen stiegen.
Ärzte waren zentrale Täter dieses Massenmords. Ihr Handeln war unter anderem durch ihren therapeutischen Ehrgeiz motiviert. Viele Psychiater versuchten mit Elan diejenigen zu heilen, bei denen sie eine Chance sahen. Die als unheilbar eingestuften beanspruchten aber auch Kapazitäten und kosteten Geld – und behinderten aus Sicht der „Euthanasie“-Ärzte ihre therapeutischen Möglichkeiten, zumal in Zeiten, als die Mittel der Heil- und Pflegeanstalten knapper wurden. Sollten unheilbar Kranke die Genesungschancen der Heilbaren verringern? In einer radikalisierten Psychiatrie bestand zwischen Heilen und Vernichten ein logischer Zusammenhang.
In den Prozessen nach dem Krieg wurden die meisten Ärzte und Organisatoren des Massenmords freigesprochen oder zu geringen Gefängnisstrafen verurteilt. Und das Thema wurde jahrzehntelang weitgehend verschwiegen. Lange fanden mehrere Autoren mit ihren Büchern zum Thema NS-„Euthanasie“ keine Beachtung oder noch nicht mal einen Verleger. Erst Ende der 1970er begann die wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“. Den Impuls gab eine neue Generation von Psychiatern, die die Geschichte ihrer Einrichtungen im Nationalsozialismus erforschten. Mittlerweile gibt es zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema. Doch in der Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus kommen die Opfer der NS-„Euthanasie“ meist nur am Rande vor. So dauerte es bis 2014, bis in Berlin ein Gedenk- und Informationsort zu Ehren der Opfer der NS-„Euthanasie“ errichtet wurde. Fortsetzung folgt.
Foto: Filmszene auf dem Hof der Anstalt
Info: NEBEL IM AUGUST
Regie: Kai Wessel
Drehbuch: Holger Karsten Schmidt
nach Motiven des gleichnamigen Tatsachenromans von Robert Domes
mit
Sebastian, Koch, Fritz Haberlandt, Henriette Fonfurius, David Bennent, Karl Markovics
und Ivo Pietzcker als Ernst Lossa
Eine Ulrich Limmer Produktion u.a. STUDIOCANAL Film