Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 20. Oktober 2016, Teil 9
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Dieser 143 Minuten lange Film, der in der US-Kritik noch 188 Minuten hatte, lebt vom Blick der Kamera in die Gesichter. Gesichter? Natürlich, denn sie repräsentieren den Menschen am stärksten, um dessen heutige Existenz auf Erden es dem französischen Fotografen, Regisseur und Aktivisten Yann Arthus-Bertrand geht.
Der ist berühmt geworden durch seine letzten Filme DIE ERDE VON OBEN, PLANET OCEAN. Wenn es nun um uns selber geht, kommt eine Dimension von Betroffenheit hinzu. Denn man kann bei diesem Film gar nicht anders, als sich einzugestehen, wie gut es uns Deutschen in Deutschland geht – und zwar jedem, wenn man es mit Schicksalen in der Welt von heute vergleicht, wo es eben die Gewinner des Kapitalismus und die Verlierer gibt.
Fangen wir mal mit dem Klotzen des 'freier Dokumentarfilm“ genannten Films an: drei Jahre Produktionszeit, Drehorte in 60 Ländern, 2 020 Interviews in 63 Sprachen und 500 Stunden hochauflösende Luft- und Landschaftsaufnahmen. Plakat und Filmheft zeigen das aus fünf vertikalen Gesichtsstreifen zusammengesetzte Patchworkantlitz der Menschheit, von denen die Farbe Weiß gerade mal ein Fünftel ausmacht.
Dieser Film fragt, was das denn sei, ein Mensch – oder noch besser, viele Menschen, die Menschheit, das Prinzip Mensch auf dieser Welt. Er fragt, was die Gemeinsamkeiten der Menschen sei und worin sich die einzelnen von einander unterscheiden. Dabei werden Fragen eher implizit gestellt, die Interviewfetzen, in denen Menschen über sich und ihre Sicht der Welt, ihre Hoffnungen, ihre Enttäuschungen reden, sind keine Antworten, sondern Reflektionen über das Sein. Dabei passiert es, daß jemand mit dem fehlenden Stück Brot anfängt und bei den Rätseln der Erschaffung der Welt noch lange nicht fertig ist.
Es geht um den Menschen, aber die, die wir sehen, haben einen Hintergrund, weshalb wir auch die verschiedenen Länder zumindest als hinterfangene Folie sehen, die das Antlitz der Erde die Verschiedenartigkeit bei gleicher Artgattung ebenso zeigt. Hier ist ein Mensch genau so viel wert wie alle anderen zusammen. Ohne daß Regisseur Yann Arthus-Bertrand es ausdrückt, entspricht dieser Film im Ansatz Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes, so wie es gerade anläßlich des Fernsehfilm TERROR von Ferdinand von Schirach diskutiert wurde.
Seine Motivation, gerade diesen Film mit einem derartigen Kraftaufwand zu drehen, begründete der Filmemacher: „Ich bin ein Mann unter sieben Milliarden anderer Menschen. Die letzten 40 Jahre habe ich damit verbracht, unseren Planeten und die Vielfalt der auf ihm lebenden Menschen zu fotografieren. Als Fazit habe ich das Gefühl, daß die Menschheit keinerlei Fortschritt macht. Wir schaffen es nicht, nachhaltig und friedlich zusammen zu leben.
Warum ist das so?“
Und diese Frage läßt er nicht von den wissenschaftlichen Experten auf der Welt beantworten, sondern von den Experten für ihr eigenes Leben. Bei den Antworten werden je unterschiedliche Ziele als wichtig herausgestellt. Das Besondere ist nun auch noch, daß er Menschen vor der Kamera reden läßt, die noch nie gefilmt wurden. Diese Menschen waren ihm die wichtigsten, denn ihre Stimme hatte noch niemand gehört. Auch wenn für diejenigen, die weithin Hunger kennen und deren wichtigstes Bestreben deshalb die Suche nach Nahrung ist, der Begriff der Freiheit erst weit hinter dem Hunger-Sättigungskreislauf beginnt, stellen doch alle Interviews heraus, daß so etwas wie Selbstbestimmung das Ziel eines jeden ist.
Wer sind die Menschen? Alle kann man nicht aufzählen, aber zusammenfassen, daß viele Bauern darunter sind, auch Bauern aus Mali, aber auch Freiheitskämpfer in der Ukraine, Menschen, die sich gerade verliebt haben, Menschen, die sich gerade entliebt und geschieden haben, Todeszellen-Insassen in den USA, Teebauern im Pazifik, Kinder und Familien, die gerade Tragödien und die Auslöschung von Familie erlebt haben.
Was unvergleichlich ist, das sind die Landschaftsaufnahmen, die meist aus der Vogelperspektive mit Schattenwurf von Sonne und Wolken einen zitieren lassen: die Erde ist unbewohnbar wie der Mond. Da ist so viel Fremdheit in diesen Bildern, aber auch so viel Schönheit. Aber, wir selber dürfen das nicht vergessen, es geht um den Menschen. Und es geht um die menschliche Stimme, die zusammen mit den Augen und dem gesamten Antlitz von der Leinwand zu uns darunten im Kinosaal sprechen. Das ist manchmal von einer Intensität, die schwer auszuhalten ist, weil man selbst gerne den Sprechenden Kommentare erwidern will.
Wie unterschiedlich sind die Stimmen, die Sprachen, die Stimmhöhen, die gutturalen Laute, die gefaßte oder die dramatisch verzerrte Miene. Unglaublich. Wenn uns einige Aussagen der Interviewerinnen weitergesagt werden, sind das wichtige Hinweise, ohne die man manche Aussagen gar nicht oder nur schwer verstehen könnte. Mia Sfeir, eine Interviewerin: „Am meisten hat mich die Begegnung mit einer sehr armen Inderin in Uttar Pradesh berührt. Die Frau schrie vor Wut und Verzweiflung. Obwohl ich ihre Sprache nicht verstand, vermittelte sie eine derart kraftvolle Botschaft, daß ich sie vollständig verstand. Ich fühlte die allgemeine Gültigkeit ihres Leidens und brach in Tränen aus. Daraufhin schloß sie mich in ihre Arme, ich verstand, daß ihre Botschaft auch eine der Großzügigkeit war.“
Die Musik, komponiert von Armand Amar ist eine universelle Sprache, die im Film eine begleitende, untergeordnete, aber emotional wichtige Funktion erhält. So unterschiedlich die Menschen sind, so unterschiedlich sind auch ihre Zugänge zu Tönen und sind die Instrumente, mit denen sie Töne, Rhythmen, Melodien erzeugen.
Und doch gibt es bei diesem beeindruckenden Film auch etwas zu kritisieren, was man ändern sollte. Es werden ja keine vollständigen Interviews, sondern eben nur Teile gezeigt, die als Interviewfetzen zu bezeichnen, nicht despektierlich ist, sondern im Gegenteil die Hochachtung ausdrücken soll, wie mit wenigen Worten das Wesentliche von diesen Menschen gesagt wird. Dabei wird aber die akustische Spur mit der Visualität kontraproduktiv verwendet. Wir hören noch den alten Partner sprechen, haben aber schon das neue Gesicht vor uns.
Ist das Absicht, haben wir uns immer wieder gefragt, einfach, weil es wie ein filmisches Stilmittel wirkt. Uns aber hat das gestört, weil nach unserer Auffassung dieser schöne und würdevolle Film hier nicht mit Respekt beide behandelt. Den Nochsprechenden und den Schongezeigten, dem also fremde Worte untergejubelt werden, könnte man sagen.
Aber das ist schon alles. Im übrigen ist das ein Film, den man mit einmal Sehen längst nicht verinnerlicht hat. Es gibt visuelle Höhepunkte wie die Szenen in Indien, nach denen könnte man süchtig werden. Respekt.