Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 3. November 2016, Teil 6

Filmheft

Berlin (Weltexpresso) – Woher kam die Idee zu diesem Film? Wie war der Schreibprozess?


Die Idee entstand bei einem Treffen mit der Autorin Mazarine Pingeot. Wir wollten beide einen Film über die unglaublich starken Emotionen machen, die bei Konflikten in einer Partnerschaft hochkochen. Häufig macht sich das beim Thema Geld bemerkbar.


Mazarine ist es gewohnt, zusammen mit der Drehbuchautorin Fanny Burdino zu schreiben. Ich wiederum bin die Zusammenarbeit mit Thomas Van Zuylen gewohnt. Also haben Mazarine und Fanny eine Version erarbeitet und uns geschickt. Wir haben diese überarbeitet und wieder zurückgeschickt. Und das haben wir so lange gemacht, bis wir mit den eigentlichen Vorbereitungen für den Dreh begonnen haben. Ab diesem Punkt habe ich nur noch mit Thomas und den Schauspielern gearbeitet. Meiner Meinung nach ist das Schreiben erst vorbei, wenn der Film abgedreht ist. Konkret bedeutet das: man muss ständig suchen und probieren und es vor allem fertig bringen, immer wieder Ideen über Bord zu werfen, damit alles Gestalt annehmen kann. Das Skript muss den Schauspielern gehören, sie müssen vollends von der Rolle Besitz ergreifen. Ohne ihren Beitrag wäre der Film nicht das, was er ist.



Ist Geld das Symptom oder die Ursache ihres Konfliktes? Boris hat einen weniger privilegierten Background und kein Geld, Marie hingegen schon.


In einer Beziehung steht Geld für Dinge, über die wir streiten können, es ist aber nicht die tiefere Ursache für einen Streit. Die Liebe von Boris und Marie ist nicht des Geldes wegen erloschen. Geld ist zwar ein Zankapfel, aber dahinter steckt immer die Frage, inwiefern man Anerkennung erhält oder nicht, ob man Bestätigung für das sucht, was man tut oder nicht getan hat. Eine Investition ist niemals nur ökonomischer oder finanzieller Natur. Boris und Marie kommen auf keinen gemeinsamen Nenner wenn es darum geht, zu bewerten, was sie einander gegeben haben, weil sie sich von Anfang an nicht klar darüber waren, was jeder in die Beziehung investiert hat. Beim Geld hört zwar die Freundschaft auf, aber es erzählt dafür spannende Liebesgeschichten.



Also kann man den Titel DIE ÖKONOMIE DER LIEBE auch politisch lesen?


Das ist eine Lesart. Als Regisseur sollte man seine Filme so offen wie möglich gestalten, vorzugsweise mit vielen verschiedenen Möglichkeiten, wie man darauf Bezug nehmen und sich damit identifizieren kann. Ich persönlich möchte den Film nicht aus dieser Perspektive betrachten. Mein Ausgangspunkt war der einfache Gedanke, dass, wenn man zusammen Kinder bekommt, man sich anfangs nicht vorstellt, dass die Beziehung auseinandergehen könnte. Deswegen wohnt jeder Trennung diese Traurigkeit inne – weil sie nicht eingeplant war, und man nicht daran gedacht hat.

Die Situation dieses Pärchens ist für beide noch schwerer zu ertragen, da Boris nicht die finanziellen Möglichkeiten hat, um sich eine Wohnung zu suchen, und sie somit gezwungen sind, weiterhin zusammenzuleben.
Es war unmöglich, diese ökonomische Realität nicht zu berücksichtigen: Die Mieten in den Großstädten sind derart gestiegen, dass viele Leute lange Zeit brauchen, um sich zu trennen, da sie es sich nicht leisten können, allein die Miete zu bezahlen. Früher blieb man aus moralischen Gründen zusammen, heute sind es finanzielle Gründe. Das sagt etwas über unser Zeitalter aus...



Warum haben Sie dem erwachsenen Paar die Zwillinge gegenübergestellt?


Ich hatte schon seit Jahren die Idee von einem sich trennenden Paar mit Zwillingskindern: zwar hat man, wenn man verliebt ist, die romantische Vorstellung, seinen Zwilling im Geiste gefunden zu haben, aber Eltern von Zwillingen sind ab der Geburt mit etwas konfrontiert, was sie selbst niemals sein werden. Ich bin selber Zwilling und Halbbruder von Zwillingen, und meine Eltern und mein Vater, der mit seiner neuen Frau, die wiederum selbst Zwilling ist, erneut Zwillinge bekommen hat, haben mir davon erzählt. Das ist etwas, von dem ich hoffe, dass ich es in der Szene, in der alle zusammen tanzen, eingefangen habe.



Die Mädchen scheinen von der Situation sehr hin- und hergerissen zu sein. Einerseits haben sie Verständnis für die strikten Regeln, die Marie Boris auferlegt. Anderseits sind sie sehr verständnisvoll, was die Fehltritte ihres Vaters angeht. „Es ist nicht sein Tag“, sagt Jade zu Margaux, um zu erklären, warum es so peinlich ist, dass Boris an einem Mittwochnachmittag zu Hause ist.


Marie scheint alle Regeln aufzustellen. Sie hat das Sagen. Boris hat nichts zu melden, aber in gewisser Weise erlaubt ihm diese Position, seine eigenen Regeln aufzustellen. Die beiden finden keinen gemeinsamen Nenner. Aber ihre Streits haben auch etwas Kindisches. Der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Winnicott sagt: “Die Katastrophe hat immer bereits stattgefunden”. Es ist interessant, Erwachsene auf Grundlage der Kinder, die sie mal waren, und der Streits, die sie damals hatten, zu beobachten. Aber ich versuche nicht, für den Einen oder den Anderen Partei zu ergreifen. Das ist Sache der Zuschauer und der Kritiker. Der Film gibt einem die Möglichkeit dazu.



Maries Mutter, gespielt von Marthe Keller, ist krampfhaft um eine Versöhnung des Paares bemüht.


Sie folgt der Logik ihrer Generation. Sie steht für eine Art von Kompromiss, bei dem Liebe in Freundschaft verwandelt wird. Ich würde gern glauben, dass Liebe etwas anderes ist: Wir leben mit jemanden zusammen, weil wir ihn begehren. Allerdings ist Verlangen, per Definition, die komplexeste, riskanteste und beunruhigendste Sache, die es gibt. Der Charakter von Bérénice Bejo glaubt, dass sie ein Leben führen kann, das anders ist als das ihrer Eltern. Sie emanzipiert sich.



Kommen wir noch mal auf die Kinder zurück. Sowohl während der Tanzszene, als auch bei der „Bettzeit“-Szene, hat man das Gefühl, dass sie es extrem genießen zur gleichen Zeit „Mama“ und „Papa“ zu sagen.


Ich war selbst ein Scheidungskind, bin aber auch ein Scheidungsvater. Wenn man bedenkt, was dadurch möglich ist, kann das ein Vorteil sein, aber zugleich ist es immer ein Nachteil, weil man die Traurigkeit, die in dieser Situation weilt, nicht ignorieren kann. Eine Trennung ist immer ein Scheitern. Doch für mich sagt der Film, dass trotzdem immer noch etwas möglich ist.

 


Abgesehen von den Konflikten zirkulieren noch jede Menge Gefühle zwischen den beiden Charakteren.


Ja, der Film ist ja keine Tragödie. Lange Zeit war Tragik für mich ein Schutzschild, wenn ich das Leben betrachtet habe, und ich bin glücklich, jetzt diese Zärtlichkeit zu offenbaren, die in beiden Figuren steckt; sie zerfleischen sich gegenseitig und haben trotzdem noch etwas miteinander zu tun. Wenn die Leute aus dem Film kommen und sich fragen, wie man solch eine Situation lösen kann ohne dem Anderen zu schaden, dann habe ich mein Ziel erreicht.

 


Erzählen Sie uns etwas über die Auswahl der Schauspieler.


Das Casting ist immer eine sehr komplizierte Situation für mich – mich übermannen viele Zweifel, und ich mache oft einen Rückzieher. Das hört erst auf, wenn die Schauspieler am Set sind, und wir mit dem Dreh begonnen haben. Sobald wir an diesem Punkt sind, habe ich noch nie meine Entscheidungen bereut. Bérénice Bejo ist eine erstaunliche Komplizin, sie ist immer auf der Seite des Autors. Vielleicht liegt es daran, dass ihr Vater und ihr Ehemann Regisseure sind. Sie ist eine großartige Schauspielerin – anrührend und eindrucksvoll.

Bérénice ist kein Star im eigentlichen Sinne, sie ist natürlich und deshalb ist sie im Film auch so überzeugend. Cédric Kahn brachte seinen Scharfsinn und seine Intelligenz mit in den Charakter von Boris ein – nicht nur durch sein Spiel, auch durch seine Überlegungen über das Paar. Wir waren uns nicht immer einig, manchmal hatten wir sogar Streit, aber eben diese Auseinandersetzungen haben den Film auf eine höhere Stufe gebracht. Ich sage es noch einmal: Ich schreibe meine Filme immer mit meinen Schauspielern.


Wie wirkt sich das auf die Arbeit am Set aus?


Für mich ist ein Regisseur wie ein Schwamm: er ist nicht dazu da, damit die Figuren aussehen wie er, sondern er muss den Film so komplex wie möglich gestalten.


Um diese Komplexität zu erreichen und zum Leben zu erwecken, besteht meine Arbeit daraus, Menschen zuzuhören, ihre unterschiedlichen Blickwinkel auf die Geschichte zu erkennen und sie dazu zu bringen, möglichst sie selbst zu ein – so subjektiv wie möglich. Und dann liegt es an mir, aus all diesen Zutaten etwas zu zaubern.


Für DIE OKÖNOMIE DER LIEBE habe ich viele Szenen konstruiert und dekonstruiert bis ich letztlich zu einem Ergebnis kam, welches meiner Anfangsidee ziemlich ähnlich war, aber wahrscheinlich realistischer wirkt. Am Set habe ich den Schauspielern von meinen Zweifeln erzählt. Ich habe ihnen ohne Umschweife gesagt, dass ich etwas Bestimmtes suche und sie um Vorschläge gebeten. Es war schwierig für sie, denn anfangs dachten sie, sie wären frei, aber später haben sie realisiert, dass ich ihnen nicht die Entscheidungsgewalt übertragen habe. Das war frustrierend und es brauchte viel Großzügigkeit ihrerseits, dies zu akzeptieren. Ich hoffe aber, dass sie nun wissen und sehen, was sie in den Film eingebracht haben. Man ist niemals nur von sich selbst inspiriert.



Haben Sie die Schauspieler gebeten, im Vorfeld bestimmte Filme zu schauen?


Nur einen: WER HAT ANGST VOR VIRGINIA WOOLF? von Mike Nichols. Ich habe ihnen gesagt: „Wir sind an einem einzigen, begrenzten Ort, der uns zwingt, die Magie des Kinos darin zu finden. Mein Traum wäre es, dass Ihr so frei seid wie Elizabeth Taylor und Richard Burton es bei Mike Nichols waren.“ Für mich ist der Film eine großartige Referenz.



Wie haben Sie Jade und Margaux, die beiden Mädchen gefunden?


Mein Casting Director hat ungefähr fünfzig Kinder gesehen, darunter eine der Zwillinge. Als ich sie das erste Mal sah, habe ich die Mutter gleich gefragt, ob ihre Schwester nicht auch mitspielen möchte. Ich habe nicht einmal Testaufnahmen mit ihnen gemacht. Mir war klar, dass die Zwillinge großartig sein würden, dass sie vor allem mit sich selbst und erst dann mit Bérénice und Cédric spielen würden. Es stellte sich heraus, dass beide großes Talent haben. Manchmal habe ich vierzig oder fünfzig aufeinanderfolgende Takes mit ihnen gedreht. Sie haben alles mitgemacht, wie richtige kleine Profis.


Und das Haus selbst ist auch ein Charakter ...


Das ist ein enormer dramaturgischer Kniff: es ist der Inbegriff dessen, was das Paar zusammen aufbauen wollte und zeigt, wie sehr jeder daran beteiligt war. Ein handfester Beweis für eine frühere Leidenschaft, von der jetzt nichts mehr übrig ist.



Also eine Art Spiegel...


Es war sehr aufregend, dies mit Olivier Radot, dem Bühnenbildner, mit dem ich bereits bei THE WHITE KNIGHTS zusammengearbeitet habe, auszutüfteln. Wie kann ein Filmset für eine Liebe stehen – eine Liebe, die für die Figuren jetzt schwer zu ertragen ist. Wie sieht ein Haus aus, in dem man einmal glücklich war? Für mich musste es Andersartigkeit symbolisieren. Es ist kein Ort, den man füllt, in dem man zusammen alle Dinge kauft, sondern ein Ort, in den jeder das einbringt, was ihm wichtig ist, und an dem die Dinge nebeneinander bestehen. Ich hoffe, dass das Set das aussagt. Ich habe das Haus genauso ausgewählt wie man einen Schauspieler für einen Film auswählt. Und es war wichtig, dass das Haus einen Garten hat. Wir haben in einem begrenzten Raum gedreht und brauchten etwas Luft.



Im begrenzten Raum des Hauses bewegt sich die Kamera unwahrscheinlich flüssig ...


Ich finde die Möglichkeit, ganz sanft vom einem zum anderen Charakter zu gehen, sehr spannend und ich liebe es, Verbindungen zu inszenieren. Die Steadycam erlaubt diese Geschmeidigkeit, und ich habe schon lange davon geträumt, einen ganzen Film mit dieser Methode zu drehen. Aber man braucht ein Händchen dafür, das können nur wenige Leute. Mein Kameramann François Hensgens erzählte mir von einem neuem Modell, der Stab-One, die mehr Bewegung an beengten Drehorten zulässt. Er hatte das schon bei seinem vorherigen Film genutzt, er zeigte mir etwas Material, und ich war sofort davon begeistert und beschloss, DIE ÖKONOMIE DER LIEBE komplett damit zu drehen. Iñárritu hat bei seinen letzten beiden Filmen BIRDMAN und THE REVENANT auch damit gearbeitet und kurze Brennweiten verwendet. Wir haben nur lange Brennweiten verwendet, was schwieriger in der Handhabung war und sehr präzise Regieanweisungen verlangte. Aber es erlaubte uns, die Sequenzen in flüssigeren Bewegungen zu drehen und zugleich die Bindung zwischen den Charakteren mit einer gewissen Anmut hervorzuheben, was mir sehr gefiel. Auf formaler Ebene hat der Film mir große Freude bereitet.



Nach THE WHITE KNIGHTS kehren Sie mit diesem Film wieder in vertrautere Gefilde zurück...


Das Paar ist ohne Zweifel das Thema meines Lebens. Ich bin immer zwei gewesen. Als Zwilling musste ich mit der Zwillingsverbundenheit klarkommen, was mich aber als Erwachsener nicht davon abgehalten hat, mit der Frau, die ich liebe, eine enge Bindung einzugehen. Ich bin jetzt 40 Jahre und habe das Gefühl zeigen zu müssen, wie viel das Paar mir bedeutet und was für ein Potential darin steckt. Ich inszeniere das in einer traurigen Geschichte, die aber auch erzählt, inwieweit das „Paar sein“ zugleich eine Emotion ist. Es ist ein Ort, an dem Zuneigung möglich ist. Als Kind sagte mein Vater, der Fotograf war, immer: „Ein Fotograf ist jemand, der seinen Blick auf die Welt mit anderen teilt und ihre Besonderheiten annimmt.“ Bei diesem Film hatte ich das Glück, mit Schauspielern zu arbeiten, die es mir erlaubten, sie zu beobachten und dank ihrer Arbeit kann ich nun dem Publikum ein Stück meiner Weltsicht, die immer in mir war, ich aber nie adäquat ausdrücken konnte, näherbringen.




FILMOGRAFIE (AUSWAHL)

2016 DIE ÖKONOMIE DER LIEBE
mit Bérénice Bejo und Cédric Kahn

2015 THE WHITE KNIGHTS
mit Vincent Lindon, Louise Bourgoin, Valérie Donzelli und Reda Kateb

2012 OUR CHILDREN
mit Émilie Dequenne, Tahar Rahim und Niels Arestrup

2010 AVANT LES MOTS Dokumentarfilm

2008 PRIVATUNTERRICHT
mit Jonas Bloquet, Jonathan Zaccaï und Yannick Renier

2006 PRIVATBESITZ
mit Isabelle Huppert, Jérémie Renier und Yannick Renier

2006 ÇA REND HEUREUX
mit Fabrizio Rongione, Kris Cuppens und Catherine Salée

2004 PRIVATE MADNESS
mit Kris Cuppens, Catherine Salée und Mathias Wertz

Foto: Die beiden Hauptdarsteller im Film