Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 3. November 2016, Teil 7

Filmheft

Berlin (Weltexpresso) – Drei Jahre nach LE PASSÉ – DAS VERGANGENE von Asghar Farhadi spielen Sie wieder eine Frau an der Schwelle zur Scheidung...


In der Tat war mir die Problematik vertraut, weshalb ich auch überlegt habe, ob ich die Rolle überhaupt annehmen soll. Aber die Situationen der beiden Maries –  die Figur in LE PASSÉ – DAS VERGANGENE heißt auch Marie – sind sehr unterschiedlich, und die Thematik ist doch weit entfernt von Farhadis Film.



Asghar Farhadi hat eine ganz besondere Arbeitsweise. Wie war die von Joachim Lafosse?


„Ich will, dass du vom Drehbuch Besitz ergreifst. Sag mir, was du tun willst“, sagte er zu mir bei unserem ersten Gespräch. „Ich kann einen ziemlich konfus machen. Manchmal weiß ich nicht weiter und dann suche ich“. Joachim erwartet viel von seinen Schauspielern. Eigentlich erwartet er von jedem viel: Schauspieler, Praktikanten, Soundingenieure... Alles was ihm Leute aus seinem Team erzählen, interessiert ihn. Er liebt es, ein Durcheinander zu provozieren und dann zu schauen, wie man mit dem Chaos umgeht. Er ist aber auch jemand, der Schwierigkeiten mit Geben und Nehmen hat. Da kann man sich manchmal ziemlich einsam fühlen.



Können Sie uns etwas über die Idee von der Inbesitznahme des Drehbuchs erzählen?


Wir haben über zwei Monate daran gearbeitet, erst nur Joachim und ich, später dann zusammen mit Cédric Kahn. Wir haben stets darauf geachtet, unsere Rollen zu verteidigen und gleichzeitig die Balance in der Beziehung zu wahren. In dieser Phase lässt man sich sehr darauf ein...


 
Ihr Charakter Marie ist besessen von Geld.


Ich kenne diese Angst, auch wenn ich sie nicht mehr habe. Als Kind habe ich mitbekommen, wie meine Eltern mit ihren finanziellen Sorgen gerungen haben. Es war ihr letzter Gedanke am Abend und ihr erster Gedanke am Morgen. Auf diese Erfahrung konnte ich aufbauen.



Anders als Boris kommt Marie aus einer reichen Familie und geht arbeiten. Glauben Sie, die sozialen Unterschiede sind von Belang, wenn es darum geht, das Ende ihrer Beziehung zu erklären?


Wenn eine Frau mehr Geld verdient als ihr Ehemann, fühlt sich das nie gut an. Weder sie, noch der Ehemann können das ertragen. Sie müssen einen Ausgleich finden, damit das funktioniert. Marie hatte eine Zeit lang einen gefunden: Vielleicht fühlte sie sich dank Boris besonders, vielleicht war er ein guter Liebhaber... Sie haben sich wirklich geliebt, aber diese Zeiten sind vorbei. Sie bekommt nichts mehr zum Ausgleich – weder Geld, noch Sicherheit, noch Manneskraft. Er fasziniert sie nicht mehr, sie liebt ihn nicht mehr.



Sie ist sehr hart zu ihm.


Der Film erzählt nur sehr wenig über Maries Vater, aber ganz zu Anfang war er im Skript als beeindruckender Mann beschrieben. Ich habe an der Idee seines Vermächtnisses gearbeitet. Diese Frau hat versucht, aus ihrem sozialen Background auszubrechen indem sie auf eigenen Beinen steht und sich einen Partner aus einer anderen sozialen Schicht gesucht hat. Sie hat versucht, gemeinsam mit ihm etwas aufzubauen – das wunderschöne Haus, in dem sie leben, und auch ihre Kinder sind ein Beweis dafür. Er hätte härter kämpfen müssen, er hätte nicht das Geld ihrer Familie annehmen dürfen. Er hat seinen Platz nicht gefunden. Oder sie haben es ihm nicht erlaubt, seinen Platz zu finden. Wenn Marie gemein und hart zu ihm ist, wenn sie ihm all diese schrecklichen Regeln auferlegt, dann nur, weil sie fürchterlich wütend auf ihn ist. Sie kann ihn nicht mehr ertragen – die Art, wie er redet, wie er sich bewegt, seine Pläne, seine Lügen. Alles, was sie früher anziehend fand, verärgert sie jetzt nur noch. Abgesehen davon: Mit jemanden zusammenzuwohnen, den man nicht mehr liebt, und der nicht gehen will, ist fürchterlich. Sie schlägt zurück so gut sie kann.
 


Darüber hinaus muss sie sich mit ihrer Mutter herumärgern.


Ihre Mutter mischt sich ständig ein. Sie ist ungeschickt und hätte Boris nicht anbieten sollen, ihn bei sich aufzunehmen. Sie überschreitet ständig Grenzen und hat einen anderen Blick auf das Leben als ihre Tochter. In Anbetracht der Situation wünscht sich Marie, dass ihre Mutter komplett hinter ihr steht. Allerdings reden die Frauen miteinander und sie lieben sich.



Während ihre Mutter Vergebung und eine Art finanziellen Ökumenismus predigt, erneuert Marie die Verbindungen zu ihrem sozialen Background und ihrer Herkunft ...


Sagen wir, sie findet sich damit ab.

 



Sie scheinen sie zu verteidigen ...


Sie folgt ihrer eigenen Logik. Zum Beispiel ist es für sie nicht einfach zu sehen, wie Boris mit den Kindern über Wohlstand redet und Werte verteidigt, die auch sie teilt. Aber Marie weiß sehr genau, dass sie nicht von Liebe allein leben kann. Und darüber hinaus ist sie es leid, für alle anderen zu arbeiten. Sie will, dass er geht, dass er akzeptiert, dass sie ihn nicht mehr liebt. Sie reagiert mit ihren „Waffen“.

 



Poltischen Waffen?


Es ist immer etwas Politisches im Spiel, wenn es um die Lücke zwischen den sozialen Klassen geht. Aber auf diese Weise sehe ich den Film nicht.



Sie haben gesagt, dass Sie, während sie mit Cédric Kahn und Joachim Lafosse das Drehbuch umgeschrieben haben, versucht haben, den Charakter von Boris wieder ins Gleichgewicht zu bringen ...


Meine Vorschläge waren nicht dazu gedacht, ihn noch kleiner dastehen zu lassen. Er ist auch verärgert und das aus verschiedenen Gründen: er hat kein Geld, er hat, im Gegensatz zu anderen, es versäumt, die soziale Leiter emporzuklettern und er ist derjenige, mit dem Schluss gemacht wurde – oder zumindest glaubt er das. Boris ist, wie jeder Mann, ein kleiner Feigling. Für ihn soll alles so bleiben, wie es ist, damit er bei seiner Familie bleiben kann.
Er will auch nicht ihre Fehler sehen, er konzentriert sich ausschließlich auf den Geldaspekt, an dem sich beide zerfleischen – bis auf den einen Moment an, dem er eine Paartherapie vorschlägt. Beide lügen sich an, aber ihm fällt es schwerer, den Gedanken einer Trennung zu akzeptieren. Aber ich mochte es, dass Marie ihn respektiert und nicht versucht, ihm seine Vaterrolle abzusprechen.



Trotzdem will sie weiterhin alles kontrollieren und kommt sofort zurück, als den Mädchen etwas passiert.


So wie wir Probleme haben zu akzeptieren, dass eine Frau mehr verdient als ein Mann, zählen Kinder, auch in der heutigen Zeit, noch immer zum Aufgabenbereich der Mutter. Es ist eine weit verbreitete Schwäche unter Frauen, und auch ich bin da keine Ausnahme: Wir wissen nicht, wie man dem Vater Raum lässt, wir wollen immer alles kontrollieren.



Die Szene im Krankenhaus, als Marie Boris sagt, dass sie die Kinder nie mehr bei ihm lässt, ist unglaublich heftig.


Sie überschreitet eine Grenze – das war sehr wichtig für mich. Und sie merkt es. Denn ab diesem Moment schwindet die Spannung. Beide verstehen, dass sie Zugeständnisse machen sollten. Und wenn man sie im Café sitzen sieht, kurz vor dem Scheidungsspruch, kann man sehen, dass wieder Frieden eingekehrt ist. Sie ist weniger unnachgiebig, er ist entspannter. Sie werden sich mit ihren Kindern etwas aufbauen. Sie werden es gut machen, wenn auch nicht zusammen. Ich mag dieses Ende.


Wie haben Sie sich nach all der intensiven Vorbereitung gefühlt, als Sie zum ersten Mal zum Set kamen?


An diesem Punkt kann meine Arbeit nicht mehr geistiger Natur sein, sonst würde ich die Lust an der Schauspielerei verlieren. Ich fühlte mich gut, ich wollte Spielen. Ich musste wieder eine Schauspielerin werden.



Sie haben die „Lafosse Methode“ erwähnt. Wie waren die ersten Tage am Set?


Schwierig. Ich verstand nicht, was Joachim von mir wollte, geschweige denn wie und ich fühlte mich außerstande, ihm in diesem Zustand überhaupt irgendetwas zu geben. Letztendlich habe ich mit ihm darüber gesprochen. Ich habe ihn gebeten, mich anzuschauen, mir Anweisungen zu geben, mich zu beschützen – ich habe ihn gebeten, der Boss zu sein. Ich glaube, es war das erste Mal, dass eine Schauspielerin ihm so eine Liebeserklärung gemacht hat. Ab diesem Zeitpunkt hatten wir eine wunderbare Verbindung. Seine Wutausbrüche brachten mich zum Lachen – ich konnte sie in fünf Minuten entschärfen. Wir haben die Zusammenarbeit sehr genossen.



Joachim Lafosse betont die Tatsache, dass, solange sein Film nicht abgedreht ist, sich das Drehbuch ständig weiterentwickelt.


Das war bei Cédric der Fall. In diesen Momenten habe ich mich immer etwas zurückgezogen. Ich habe mich an meinen Text gehalten und daran, was wir zusammen entschieden hatten, auch wenn ich einige Szenen improvisieren musste. Ich mag das Improvisieren nicht, aber Joachim hat mich nur allzu gern darum gebeten, und am Ende habe ich das sogar irgendwie genossen – er hat aber nur wenige dieser Szenen behalten.



Von all diesen Szenen, welche Improvisation hat einen besonders tiefen Eindruck bei Ihnen hinterlassen?


Es sind oft Kleinigkeiten, aber sie zeigen, wie Cédric und ich tatsächlich zu unseren Figuren geworden sind. Da gab es diese Szene mit den Zwillingen, die mich sehr wütend machte. Cédric ließ seine Figur vor den Mädchen sagen, dass Boris und Marie vielleicht zusammenbleiben. So stand es definitiv nicht geschrieben, und ich weiß noch, wie ich innerlich kochte. Ich wollte irgendwas Fieses antworten, aber schließlich entschied ich mich, still zu bleiben. Ich habe mich abgeschottet.


Auch die Art, wie ich ihm sage: „Es ist ja nicht so, dass ich Dich nicht zum Abendessen hier haben möchte, es ist nur einfach nicht Dein Tag!“, als er eines Abends unangekündigt auftaucht, um die Mädchen zu sehen. In diesen Momenten fühlte ich, wie die Dinge außer Kontrolle gerieten, ich habe nicht mehr nachgedacht, ich wurde zu Marie.


Und dann gibt es natürlich noch die Tanzszene. Im Film weine ich sehr selten – meine Figur ist viel zu wütend dazu. Wir hatten schon ein Dutzend Takes gefilmt, als ich plötzlich merkte, wie mich die Gefühle übermannten. Die Tränen begannen zu fließen. Marie ließ einfach los. Die Figur hatte von mir Besitz ergriffen. Wir haben mit diesen Tränen improvisiert, und es war wunderschön und traurig zugleich: Wir sehen all die Dinge, die nicht mehr da sein werden.



Hat Joachim Lafosse Sie gebeten, sich in die Regie einzubringen?


Er hat uns erlaubt, mit ihm zu schreiben, z. B. wie wir den Raum nutzen, wie wir von einem Zimmer ins nächste gehen. Wir hatten die Möglichkeit, eine Woche während der Proben mit all diesen Details, die wir einbringen konnten, zu experimentieren. Ich habe z. B. entschieden, was meine Figur kochen wird – Spaghetti Bolognese, grüne Erbsen mit Ei; ich bin einkaufen gegangen, ich wusste genau, was ich zubereiten werde, mit welchen Utensilien und welche Gesten ich dabei machen werde. Ich wollte so nah wie möglich an der Realität bleiben. Die Erfahrung von LE PASSÉ – DAS VERGANGENE hat mir dabei sehr geholfen. Asghar Farhadi hat uns erklärt, dass Menschen immer etwas tun: du läufst die Strasse entlang, dein Schal hängt dir im Gesicht, du nimmst ihn ab, dein Haar nervt dich, du spielst mit deinen Schlüsseln. Marie beschäftigt sich die ganze Zeit.



Wie war Ihr Verhältnis zu Cédric Kahn?


Der Dreh war für ihn härter als für mich. Ich habe mich an meine Vorarbeit gehalten. Er hat ständig neue Ideen verteidigt, was manchmal zu hitzigen Diskussionen mit Joachim führte.


Manchmal hatte ich Angst, dass der Regisseur in ihm zu sehr die Kontrolle übernimmt und den Schauspieler komplett verdrängt. Zeitweise herrschte eine ziemliche Anspannung.



Was hat Sie während der Dreharbeiten am meisten beeindruckt?


Die langen Plansequenzen, die zum Teil sechs Minuten dauerten und die wir ohne Unterbrechung gefilmt haben. Am ersten Tag haben wir 42 Takes von einer Szene gedreht, die wir am nächsten Tag wieder 42 Mal gespielt haben. Es war verstörend, aber ich mochte es irgendwie – es amüsierte mich. Und die Mädchen mochten es sehr. Sie waren unglaublich, sie haben sich niemals beschwert. Da nichts für sie geschrieben war, haben sie immer improvisiert. Sie haben teilweise tolle Sachen vorgeschlagen.



Wie würden Sie diese Erfahrung beschreiben?


Es ist schwierig, so unterschiedliche, fast schon gegensätzliche Personen wie Joachim, Cédric und mich am Set zusammenzuhalten. Das bringt Spannungen mit sich. Damit muss man klarkommen. Aber am Ende hat, glaube ich, Joachim den Film gemacht, den er machen wollte: ein Film, der seine Handschrift trägt; direkt, zurückhaltend und bewegend. Du kannst fühlen, dass die beiden Helden einmal verliebt waren.




FILMOGRAFIE (AUSWAHL)
 
2016    DIE ÖKONOMIE DER LIEBE von Joachim Lafosse
2015    FAI BEI SOGNI (SWEET DREAMS) von Marco Bellocchio
    ETERNITY von Tran Anh Hung
    THE CHILDHOOD OF A LEADER von Brady Corbet
2013     DIE SUCHE von Michel Hazanavicius
    137 KARAT – EIN FAST PERFEKTER COUP von Éric Barbier
2012     LE PASSÉ – DAS VERGANGENE von Asghar Farhadi
    THE SCAPEGOAT von Nicolas Bary
    MADEMOISELLE POPULAIRE von Régis Roinsard
2011    THE ARTIST von Michel Hazanavicius
2010    PREY – VOM JÄGER ZUR BEUTE von Antoine Blossier
2007    FINAL ARRANGEMENTS von Michel Delgado
    MODERN LOVE von Stéphane Kazandjian
2006    LA MAISON (THE HOUSE) von Manuel Poirier
    13 M² von Barthélémy Grossman
2005    OSS 117 – DER SPION, DER SICH LIEBTE von Michel Hazanavicius
    CAVALCADE von Steve Suissa
    SEM ELA (SANS ELLE) von Anna de Palma
2004    THE GREAT ROLE von Steve Suissa
2001    24 HOURS IN THE LIFE OF A WOMAN von Laurent Bouhnik
    COMME UN AVION (LIKE AN AIRPLANE) von Marie-France Pisier
2000    RITTER AUS LEIDENSCHAFT von Brian Helgeland
1999    MOST PROMISING YOUNG ACTRESS von Gérard Jugnot
1998    PASSIONNÉMENT von Bruno Nuytten
1995    LES SŒURS HAMLET von Abdelkrim Bahloul

 

Foto: Hauptdarstellerin und Interviewte im Film