67. BERLINALE vom 9. bis 19. Februar 2017, WETTBEWERB, Teil 23

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) – Die Geschichte, denkt man, kennt man allzu gut und allzu schnell. Wenn zwei junge Leute, Toma und Ana, sich kennenlernen, die jeder zu Hause auf andere Art Eltern haben, die des Kindes wegen zusammengeblieben sind, sich deshalb aneinander festhalten, selbst ein Kind bekommen und nach und nach merken, daß sie die Probleme der Eltern in ihrer Ehe reproduzieren.



In einer gegensätzlichen Bewegung verfolgen wir den Lebens-, Ehe- und Leidensweg der beiden. Von außen sind beide attraktive Studenten, die sich, wie das so ist, erst mal auf einer intellektuellen Metaebene begegnen, wenn beide vom Abscheu vor der engstirnigen, ja faschistoiden Schwester von Nitzsche, Elisabeth Förster, sprechen, die zum einen Hitler verehrte und die, wie man weiß, lange die Schriften ihres Bruders fälschte, weil sie gewisse Dinge wie zum Beispiel seine Abscheu vor Antisemitismus unterschlug, einfach strich.

Ach, wenn es später so einfach weitergegangen wäre, daß es nur um Streichungen aus dem Leben beider gegangen wäre, das wir nun mitverfolgen müssen, was eine Lähmung im Kinosessel nach sich zieht. Thoma ist am Anfang der strahlende Held, lustvoll dem Leben, der Liebe und Ana zugetan, die merkwürdige Panikattacken hat, die auf seine Bitten vom Arzt untersucht auf alles mögliche hindeuten, u.a. einen Mißbrauch ihres Stiefvaters, der noch, als sie schon 13 war zusammen mit ihr badete und sowieso im gleichen Bett schlief. Damit nichts zwischen Toma und Ana passieren kann, wird er dann, als Toma Annas Eltern besucht, mit ihm zusammen auf der aufgeschlagenen Couch schlafen.

Immer wieder gelingen Călin Peter Netzer vieldeutige Szenen, aus denen wir Zuschauer wie in einer kleinen Psychoanalyse auf das eigentliche Problem dieser Leute schließen. Das ermüdet. Es liegt eine derbe Depression über den Menschen, die so sehr mit sich selbst beschäftigt sind, daß wir über das Land, auch über das Studium, ihre Berufstätigkeiten fast überhaupt nichts mitbekommen, so sehr kreist es um die Binnenbeziehung der beiden, von denen, das bekommen wir schnell mit, inzwischen Toma auf der Couch liegt…

Eigentlich haben wir also drei psychoanalytische Vorgänge: es fängt mit der Analyse von Ana an, die sie nach langem Drängen von Toma dann doch nach der schnellen Zeugung und Geburt des Sohnes beginnt. Der Hauptteil dient der Analyse von Toma, wo wir aus seiner Perspektive in Rückblenden das Leben der beiden erleben, einschließlich der Rückfragen des Analytikers, die deutlich machen, daß Toma seine ganze Kraft aus der Schwäche von Ana nimmt. Und die dritte Analyse ist eigentlich der Film selbst, der ja eine ganz klare  Deutung vorlegt: erst ist Ana die Angeschlagene und er der rettende Held, dann entwickelt sie sich weiter und am Schluß bedauert sie, daß er nicht mitgewachsen und als das arme Schwein zurückgeblieben ist. Sie liebt ihn nicht mehr und von ihm sagt sie, daß er sie nie geliebt habe.

Wenn das alles so auf der Hand liegt, dann muß man sich als Zuschauer wenig Gedanken machen, denn es wird ja alles ausagiert: Er, der angeblich Souveräne, ist der Abhängige, sie die Koabhängige, denn er braucht ihre Abhängigkeit, um jemand zu sein, der für sie sorgen will, sie aus dem Elend herausholen will. Sie zeigt sich nicht dankbar genug, sondern geht ihren Weg.

Dabei gibt es filmisch vier thematische Schwerpunkte. Die Liebesszenen von beiden sind so nah und so persönlich, daß man sich wundert, wie die Kamera das so  einfangen kann, denn es wirkt absolut echt und vertraut und sieht nicht nach abgefilmter Liebe aus. Dann gibt es die Familienszenen, in seiner, in ihrer und in der gemeinsamen mit ihrem Jungen. Die psychoanalytischen Szenen sind schon angesprochen, von beiden, zu denen weitere Arztbesuche gehören. Eine vierte Dimension bilden die einer analyseähnlichen Beichtsituationen von Toma. Nie ist er in die Kirche gegangen, aber, als er nicht weiterweiß, geht er beichten. Und im Film spricht der Beichtvater sehr intensiv mit dem jungen Mann, stellt Fragen, gibt Ratschläge, sehr viel mehr wie ein Freundweniger als Priester und schon gar nicht ein Analytiker, der ja nur spiegeln darf. Letzter Aspekt ist dabei der interessanteste, weil im heutigen Kino ungewöhnlichste. Dabei hatte die Beichte immer die Funktion, die heute Psychoanalysen erfüllen, konnte darüber hinaus durch die Vergebung und Strafen wie fünfmal Ave Maria zu beten, den Gläubigen auch psychisch heilen, von seiner Schuld reinigen und von sich selbst befreien  und somit auf den Stand Null bringen, wo das Leben frisch wieder weitergeht.. Letztes Endes ist die Beichte für Gläubige bis heute die Analyse des kleinen Mannes, ohne daß dieser um ihre Funktion wüßte.

Am Schluß wird Ana ihren Weg gehen, ihren unbekannten Vater hat sie inzwischen auch kennengelernt, sie ist für das Leben draußen nun vorbereitet. Toma weiß, daß er sich jetzt nicht damit herausreden kann, für jemand anderen zu sorgen, sondern sich erst einmal um sich selber kümmern und sein Leben selber leben muß.

Foto:(c) berlinale.de


Info:

Călin Peter Netzer
Rumänien / Deutschland / Frankreich 2016
Rumänisch, Russisch
127 Min · Farbe
mit Mircea Postelnicu, Diana Cavallioti, Carmen Tănase, Vasile Muraru, Tania Popa
mit
Mircea Postelnicu (Toma)
Diana Cavallioti (Ana)
Carmen Tănase (Tomas Mutter)
Vasile Muraru (Tomas Vater)
Tania Popa (Anas Mutter)
Igor Caras Romanov (Igor)
Adrian Titieni (Psychoanalytiker)
Vlad Ivanov (Priester Adrian)
Ioana Florea (Irina)
Ionuț Caras (Bogdan)