Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 23. Februar 2017, Teil 13

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Man mag es nicht glauben, daß der zuerst angelaufene Film JACKIE und jetzt NERUDA von ein und demselben Regisseur, Pablo Larrain, inszeniert und gedreht worden ist. Beide Filme sind biographisch und beide mit den Augen von Larrain gesehen, wobei er bei NERUDA ins Träumen kommt und wir eigentlich einem surrealen Schaustück zusehen, daß Pablo Neruda von sich selbst hätte erfinden können.


Zuerst nämlich erzählt der Film, wie Neruda (Luis Gnecco),in den Augen seiner Betrachter wirkte. Wichtig, daß es nicht um die späteren Jahre des 1904 Geborenen geht, die Heutige besser kennen, sondern um die mittleren, nachdem der bekannte und beliebte Dichter und anerkannte kommunistische Senator dem späteren Kommunistenhetzer Videla in den Sattel geholfen hatte, damit dieser als Gabriel González Videla 1946 zum Präsidenten Chiles gewählt wurde. Was ihm dann leid tut und woran er leiden wird. Dies aber hier in poetisch sublimer wie amüsanter Form.

Überhaupt müssen wir uns im Film erst zurechtfinden. Wer spricht denn da und kommentiert den dicklichen Kerl, der anders aussieht, als seine zarten Verse glauben lassen. "Viele Frauen glauben, er mache Liebe mit einer Rose zwischen den Zähnen und springe danach auf, um ein von ihnen inspiriertes Gedicht zu verfassen." Aber genau diese Wirkung will Neruda auf Frauen machen – und nicht nur auf Frauen. Dafür verkleidet er sich und nutzt jede Gelegenheit auszudrücken, daß Ich ein anderer ist. Aber immer mit Sentiment und Poesie.

Stinkig wird er nur, wenn er auf Videla zu sprechen kommt, dem er am meisten übel nimmt, daß er ihm vor zwei Jahren auf den Leim gegangen ist und ihn unterstützte. Denn – das spielt im Film aber keine Rolle, weil er eben weder eine Biographie noch geschichtliche Darstellung der Zeit ist – Videla hatte sich vom kommunistenfreundlichen Paulus zum Saulus rückverwandelt, wurde erst aus Opportunitätsgründen und dann grundsätzlich ein Feind von sozialen Bewegungen, die die ‚Gleichmacherei‘ auf Erden im Sinne hatten. Das geiselt Neruda öffentlich und verhöhnt den sich zum Diktator entwickelnden Videla.

Während wir immer noch staunend den Versen von Pablo Neruda lauschen und seinem aberwitzigen Verhalten zuschauen, wenn er in Frauenkleidern oder ähnlichem auftritt, wissen wir längst, daß es der Polizist Óscar Peluchonneau (Gael García Bernal) ist, der hier buchhalterisch aufzählt, was er von Neruda weiß, was er ihm anlastet und weshalb er ihn stellen will zwecks Verhaftung und Verurteilung. Gefängnis ist also das Ziel, so richtig das, was für den Freigeist Neruda die Hölle auf Erden wäre.

Stellen Sie sich also vor, daß Ihr Todfeind ein Bild von Ihnen entwirft, Sie kostümiert, Ihr Leben analysiert und das alles in einem Film verarbeitet. So macht es Peluchonneau, dem Regisseur Larrain folgt, aber die in Lateinamerika berühmten Verse: "Puedo escribir los versos más tristes esta noche -  Heute Nacht kann ich die trübsten, traurigsten Verse schreiben …" decouvrieren die Absicht des Erzählers und Filmemachers und nachdem Neruda sich zur Flucht vor dem Häscher entschlossen hat, passiert etwas Eigenartiges. Je näher der verfolgende Polizist dem Dichter, der auf seiner Flucht das Land durchquert und in die Anden flieht, kommt, desto physisch gewitzter und psychisch gelassener, ja frecher wird der Verfolgte. Neruda dreht Peluchonneau nachgerade eine Nase.

Verfolgt zu werden, ist eben auch etwas, was überlegen und stark macht, sagt uns Larraín unter der Hand. Aber offensichtlich zeigt er ebenfalls, daß das Leben ein Traum ist, wie schon Calderón wußte, oder Herder uns versichert „Ein Traum, ein Traum ist unser Leben auf Erden hier. Wie Schatten auf den Wogen schweben und schwinden wir...“

Dabei unterläuft der Regisseur seinen Traumansatz in den gleichen Bildern wiederum radikal. Wenn Neruda zu tönen anfängt und wir ihn im Parlament wähnen, wird aus dem edlen Raum von Marmor und Stuck durch einen kleinen Schwenk das Pissoir. Irre. Auch wenn Neruda seine Verfolger zu täuschen versucht, er sei mit einem Schiff ins Ausland geflohen, was ein gefälschtes Foto zeigen soll, spielt der Regisseur mit inszenierter Vorstellung und Wirklichkeit – und er spielt mit uns. Denn der Polizist  Óscar Peluchonneau kann den Dichter ja gar nicht verfolgt haben, er ist doch nur ein Produkt der Phantasie des Poeten, der 1971 den Nobelpreis erhielt und 1973 starb...

P.S.

"Ich weiß nicht, ob ich all das erlebt oder ob ich es geschrieben habe, ich weiß nicht, ob es Wirklichkeit oder Poesie war, etwas Vorübergehendes oder Bleibendes, die Gedichte, die ich in diesem Moment erlebte, die Erlebnisse, die ich später dichtete.“
Pablo Neruda in seiner Nobelpreisrede über die Überquerung der Kordilleren auf der Flucht nach Argentinien.



Foto: © Verleih

Info:
"Neruda"
Chile/Argentinien et al. 2016
Regie: Pablo Larraín
Drehbuch: Guillermo Calderón
Darsteller: Luis Gnecco, Gael García Bernal, Mercedes Morán, Alfredo Castro
Produktion: Fabula, Participant Media et al.
Verleih: Piffl
Länge: 107 Minuten
Start: 23. Februar 2017

Wir sahen den Film in der ersten Vorstellung in der HARMONIE, Frankfurt, wo er täglich um 16 und 20 Uhr spielt.