10. LICHTER Filmfest Frankfurt International geht mit der Preisverleihung und dem letzten Film am Sonntagabend zu Ende
Claudia Schulmerich und Helga Faber
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das mochte man nicht glauben, als man Sonntagnacht gegen 22.30 Uhr den Mousonturm Frankfurt - eine Woche lang angenehme Herberge des LICHTERFilmfestes - verließ: gähnende Leere. Na ja, ein paar Versprengte schon, aber man konnte normal den Ausgang passieren, ohne xmal jemanden anzurempeln und ohne selbst blaue Flecken zu bekommen.
Die Woche über war hier nämlich Volksfest, oder wie soll man das sonst nennen, wenn über Stunden Menschen einfach herumstehen, miteinander reden, miteinander trinken - tja und draußen vor der Tür auch miteinander rauchen. Das Überwältigende an diesem speziellen Frankfurter Filmfestival sind eben doch die Besucher, die den LICHTERN seit 10 Jahren die Treue halten - und immer mehr werden. Das muß auch sein bei der längst stattgefundenen Konsolidierung des Festivals, bei dem besonders auffällt, wie jung das Publikum überwiegend ist. Junge Leute für Filme, für das Filmschaffen wie auch das Kritisieren von Gesehenem zu begeistern, ist eine unterschwellige Aufgabe, die hier eindrucksvoll eingelöst wird.
Das weitere Besondere ist das Aussparen von Prominenz, auch das Herunterspielen der Leitungsfunktionen von Festivalleiter Gregor Maria Schubert und seiner Stellvertreterin Johanna Süß durch die beiden selber. DAS TEAM ist es, das dies alles leistet und wie viele sich dahinter verbergen, konnte man kaum durchzählen auf der Bühne zum Schlußapplaus und Schlußdank. Rund vierzig hatten wir gezählt, mehr Frauen als Männer - das ist übrigens immer so, wenn nicht das Geld, sondern die Arbeit im Vordergrund steht. Die meisten arbeiten unentgeltlich mit und machen das, weil es tierisch Spaß macht. Das mochte man auf Anhieb glauben, denn Fröhlichkeit war die ganze Woche über zu spüren. Lustig, daß diese tollen Frauen, die die Welt zusammenhalten, dann auch im Abschlußfilm eine Rolle spielten.
Como Nossos Pais
heißt der brasilianische Abschlußfilm, was bedeutet: Gerade so wie unsere Eltern! Am Beispiel von Rosa, übrigens einer sehr bekannten brasilianischen Schauspielerin, bekommen wir mit, wie sie die größte Opponentin ihrer Mutter wird und dann die gleichen Verhaltensweisen und auch die gleichen Fehler, wenn es denn welche sind, macht, wie die gehaßte, geliebte Mutter. Geliebt vor allem, wenn sie gestorben ist. Normales Leben also.
Rosa kämpft an allen Fronten: Während ihr häufig verreister Ehemann Dado nur die Rettung des Amazonas im Sinn hat, kümmert sie sich um Geld, Kindererziehung und das gemeinsame Apartment in São Paulo. Den Lebenstraum als Theaterautorin hat sie längst einem sinnleeren Brotjob als Werbetexterin geopfert. Und selbstverständlich ist sie zur Stelle, wenn ihr liebevoll-verspulter Künstlervater in Geldnöte gerät.
Das Fass zum Überlaufen bringen jedoch weder beruflicher Frust noch Dados Klagen über zu wenig Sex. Rosas alleinlebende Mutter Clarisse lässt fast beiläufig die Bombe platzen, die ihr Leben endgültig verändert. Como Nossos Pais ist eine genau beobachtende Generationenstudie. Schonungslos legt Regisseurin Laís Bodanzky Lebenslügen offen, analysiert die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern und räumt mit den Konventionen des klassischen Familienbildes auf.
Die Preisträger des 10. LICHTER Filmfests
„A Gravame – das Stahlwerk, der Tod, Maria und die Mütter von Tamburi“ von Peter Rippl erhält den Preis als bester regionaler Langfilm des 10. LICHTER Filmfests. Der LICHTER International Feature Award zum Thema „Wahrheit“ geht an „I am not Madame Bovary“ von Feng Xiaogang. Die Kurzdoku „Über Druck“ von Sebastian Binder und Fred Schirmer gewinnt den regionalen Kurzfilmpreis. Simon Stadler und Catenia Lermer dürfen sich über den LICHTER Publikumspreis für ihren Film „Ghostland“ freuen. Der Sieger des neuen Virtual Reality-Wettbewerbs ist „Sergeant James“ von Alexandre Perez.
Mit einer feierlichen Preisverleihung und dem Abschlussfilm Just Like Our Parents (siehe oben auf Deutsch und Brasilianisch) endete die Jubiläumsausgabe des LICHTER Filmfests Frankfurt International am Sonntagabend. Vom 28. März bis 02. April hatte LICHTER den Frankfurter Mousonturm und weitere Kinos in der Region mit über 100 internationalen und regionalen Filmen, Gesprächsrunden und Ausstellungen bespielt.
„Die vergangenen Festivaljahre haben gezeigt, dass Frankfurt der richtige Ort für ein großes internationales Filmfestival ist. Zum zehnjährigen Jubiläum haben wir uns neuen Herausforderungen gestellt und sind in der Programmvielfalt noch weiter gewachsen“, sagt Festivalleiter Gregor Maria Schubert. In der neuen Reihe Zukunft Deutscher Film präsentierte LICHTER ausgewählte Glanzpunkte der deutschen Filmlandschaft. Die fünf Beiträge bewiesen, wie mutig und experimentell der deutsche Regie-Nachwuchs aktuell arbeitet. „Gerade unter jungen Filmemachern gibt es viele Talente, die im heimischen Kino leider völlig untergehen. In Frankfurt wollen wir ihnen Sichtbarkeit und den Zugang zu einem begeisterungsfähigen Publikum bieten“, so Johanna Süß, stellvertretende Festivaldirektorin.
„Als erstes deutsches Filmfestival haben wir 2017 einen Virtual Reality Wettbewerb ausgelobt. Damit haben wir den Nerv der Zeit getroffen. Alle VR-Vorstellungen waren ausverkauft“, so Gregor Maria Schubert. Insgesamt kamen in diesem Jahr 10.000 Besucher zum LICHTER Filmfest.
Der LICHTER International Feature Award
Zum zweiten Mal zeichnete das LICHTER Filmfest den besten Langfilm aus dem internationalen Programm zum Thema „Wahrheit“ aus. Die Jury, bestehend aus Regisseur Niko Apel, ZDF/3Sat-Redakteurin Nicole Baum, Theaterregisseurin Betty Berr und Bühnenbildner Rainer Wothe, entschied sich für die chinesische Tragikomödie I am not Madame Bovary.
Der in China als Blockbuster-Regisseur bekannte Feng Xiaogang wirft einen satirischen und sehr amüsanten Blick auf die kafkaesken Justizprozesse in China. Nachdem die Cafebesitzerin Li Xuelian von ihrem Ex-Mann betrogen wurde, versucht sie entschlossen und mutig gegen das chinesische Rechtssystem vorzugehen. Die Jury lobte das kreisformatige Bildformat, „das einem das Gefühl gibt, die Handlung durch ein Teleskop zu beobachten.“ Diese völlig neue Kinowahrnehmung erinnere an alte chinesische Malereien. „Der Film ist ein starkes Plädoyer für die Resistenz eines Einzelnen gegen die bürokratische Politik-Maschinerie Chinas und damit nicht nur in seiner ästhetischen Herangehensweise radikal, sondern auch ein subversives Meisterwerk“, heißt es in der Begründung der Jury.
Elf Filme konkurrierten um den mit 2.000 Euro dotierten, von Prolight + Sound gesponserten Preis.
Der regionale LICHTER Wettbewerb
Aus neun Beiträgen im regionalen Langfilm-Wettbewerb wurde Peter Rippls Zeitdokument A Gravame – das Stahlwerk, der Tod, Maria und die Mütter von Tamburi mit dem Weißen Bembel und einem Preisgeld in Höhe von 2.000 Euro geehrt. Die Dokumentation porträtiert die Einwohner einer süditalienischen Stadt, die unter Europas größtem Stahlwerk leiden. „Peter Rippl ist ein Film gelungen, der auf der Netzhaut brennt. In Anlehnung an den dokumentarischen Neorealismus in Italien, wird in ‚A Gravame’ die Geschichte der Stadt Tarent über die erzählenden Erinnerungen der Menschen lebendig. Parallel werden ihre Hoffnungen, der Alltag und der tief verwurzelte katholische Glaube im Schatten der Karwoche ‚Settimana Santa’ sichtbar“, heißt es in der Jury-Begründung. Die Filmemacher Pepe Danquart und Mischka Popp sowie die beiden Schauspieler Numan Acar und Reza Brojerdi lobten die Akualität des Films in Zeiten prekärer Lebensverhältnisse im Süden Europas.
Den Preis für den besten regionalen Kurzfilm erhielten Sebastian Binder und Fred Schirmer für den Dokumentarfilm Über Druck. „Die Filmemacher haben sich einem universellen und alltäglichen Phänomen so lässig und sympathisch angenähert, dass man erst auf den zweiten Blick merkt, wie souverän und intelligent sie das Thema filmisch durchdrungen haben“, so die Begründung der Jury. Produzent Robert Hertel und die Regisseurinnen Sylvie Hohlbaum und Christel Schmidt lobten die authentischen und wunderbar eigenwillig-schrägen Protagonisten sowie die unaufdringlich komponierten Einstellungen. Die beiden Regisseure dürfen sich über 1.000 Euro und zwei vom Filmhaus Frankfurt gestiftete Seminargutscheine freuen.
Der Binding Publikumspreis
Der Bindung Publikumspreis gibt den Besuchern des LICHTER Filmfests die Möglichkeit, ihren persönlichen Favoriten zu küren. Der Preis ist mit 2.000 Euro dotiert und geht in diesem Jahr an Ghostland. Die Filmemacher Simon Stadler und Catenia Lermer begleiten in dem Film die Unreinwohner Namibias auf eine Reise bis nach Frankfurt am Main.
Wettbewerb Virtual Reality Storytelling
Der VR-Gewinnerfilm Sergeant James des Franzosen Alexandre Perez setzte sich gegen mehr als 50 Einreichungen durch und erhielt ein Preisgeld in Höhe von 1.000 Euro, gestiftet vom Hauptförderer, der Aventis Foundation. Die fünf Finalistenfilme kamen aus Russland, Deutschland, Frankreich, Irland sowie Kanada und entführten die Festivalbesucher im studioNAXOS in unterschiedlichste Bilderwelten. Neben dem Wettbewerb tauschten internationale Experten auf einer Konferenz im Rahmen des ZDF Digital I VR-Lab ihre Erfahrungen mit dem Erzählen in virtuellen Welten aus. Zusätzlich konnten Filmemacher auf einer zweitägigen Messe Werkzeuge und Techniken zur Herstellung von VR-Inhalten kennenlernen.
Der LICHTER Art Award
Für Simba in New York ist der Künstler und Filmemacher Tobi Sauer bereits am Dienstagabend mit dem LICHTER Art Award ausgezeichnet worden. Der Wettbewerb für zeitgenössische Videokunst ist mit einem Preisgeld von 1.000 Euro dotiert. Über 80 Werke wurden für die siebte Ausgabe des Art Award eingereicht. Vor allem inhaltlich und formal überzeugte der Videoessay: „Sauers Film ist auf der Suche nach dem ‚wahren Amerika’ und – wie es dort heißt – nach der neuen Welt, nach Peter Pans’ Nimmerland als unseren Sehnsuchtsort“, sagte Jurymitglied Olaf Stüber in seiner Laudatio. Neben dem Kurator und Galeristen bestand die Jury aus der Künstlerin Mathilde ter Hejine, sowie der leitende Kurator des LICHTER Art Award, Saul Judd.
Foto: Zum Abschluß bekamen alle eine Blume (c) Philip Kohler
Hintergrund
Das LICHTER Filmfest ist die zentrale Plattform des Filmschaffens der Rhein-Main-Region und mit seiner Auswahl von Filmen aus allen Regionen der Welt das einzige wirklich internationale Festival an einem wachsenden Standort der Filmbranche. LICHTER geht vom 28. März bis zum 2. April 2017 in seine zehnte Ausgabe. Im Jubiläumsjahr beleuchtet das Festival das Thema „Wahrheit“ in all seinen Facetten. In der internationalen Filmreihe und seinem Begleitprogramm geht es um die zutiefst menschliche Suche nach der einen Wahrheit wie auch um die allgegenwärtigen Versuche von Populisten, Wahrheiten zu verdrehen und zu verschleiern. LICHTER hat seine Wurzeln in der Film- und Kulturszene der Region: Das LICHTER Filmfest Frankfurt International begann als Werkschau des regionalen Films in einem selbstgebauten Atelierkino und hat sich in den letzten neun Jahren zu einem mehrtägigen, internationalen Festival entwickelt. LICHTER findet seit 2008 jedes Jahr im Frühling an verschiedenen Spielstätten in Frankfurt und in anderen Städten der Rhein-Main-Region statt. Ein Team aus rund 40 hauptsächlich ehrenamtlich engagierten Filmemachern, Medienexperten und Filmliebhabern richtet das Festival alljährlich aus.