Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 18. Mai 2017, Teil 2
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Ein ungewöhnlicher Film. Ein faszinierender Film. Ein schöner Film, das auch. Aber auch ein trauriger Film, denn er zeigt, wie aus wenig sehr viel wird, wie Momente über ein ganzes Leben entscheiden und wie aus Spiel Ernst wird, bitterer Ernst.
Warum das einfach ein spannender Film ist, hat viele Ursachen. Eine davon ist, daß der Zuschauer keine fünf Minuten ahnt, wie es weitergehen wird. Man hat die Filme ganz schön satt, die vorhersehbar ihre Geschichte heruntererzählen.
Grob gibt es im Film zwei Zustände. Im ersten Teil ist das Geschehen ein atemloser Thriller, der viele einzelne mit der Metro und zu Fuß quer durch Paris führt und man im Kinosessel die Geschwindigkeit an einem vorüberziehen fühlt. Im zweiten Teil wird der Film fast zum Kammerspiel, nur daß dieselben Personen, die tags im belebten Paris unterwegs waren, nun nächstens in einem menschenleeren Kaufhaus – sozusagen eine große Kammer – zusammengekommen sind, ja sich regelrecht verbarrikadiert haben.
Dazwischen liegt der Anlaß von Teil 1 und 2, die Explosionen, die die jungen Leute an allen möglichen Ecken von Paris vorbereitet hatten, damit Paris zumindest symbolisch in die Luft geht. Das sind Attentäter? Das sollen Attentäter sein? Ja und nein.
Das Tolle an dem Film ist nun, daß er einfach unsere Erwartungen unterläuft. Schon am Anfang, wenn wie in einer gewollten Choreographie die einzelnen Figuren durch Paris tanzen, hat man die Ahnung von Absicht, ohne zu wissen welche. Sie sind alle jung, deren Gänge wir begleiten und wirklich sehr lange nicht wissen, was das überhaupt soll, dieses Netzziehen über Paris. Es sind einzelne, dann merkt man, daß sich welche kennen. Ein Liebespaar ist auch dabei. Und eben normale Bewohner von Paris, waschechte Franzosen sowie neue aus den früheren Kolonien, weitere aus dem arabischen Raum, aber man merkt schnell, daß die Individuen so wichtig nicht sind, denn nicht ihre Geschichte wird erzählt, sondern sie sind Träger einer größeren Geschichte, die wie ein Sittenbild der Zeit wirkt, eine Zeit ohne Sitten gewissermaßen.
Natürlich bleibt man nach dem Film im zweiten Teil stecken. Denn die ‚Charaktermasken‘ des ersten Teils, die lernen wir in ihrem Menschsein, ihrem Sosein jetzt mehr und mehr kennen. Im Kaufhaus passiert nämlich dreierlei: es findet eine unaufhörliche Beschäftigung mit der Warenwelt statt. Die einen nehmen sie an, verkleiden sich, ja werfen sich regelrecht in Schale, prassen in der Lebensmittelabteilung, einschließlich des Champagners. Die anderen lehnen das ab, sind sowieso gefangen in den ersten TV-Nachrichten, die über die Großbildschirme der Fernsehabteilung im Kaufhaus flimmern. Sie sehen sich – überrascht, bestürzt, stolz und voller Angst - selbst, vor allem aber ihre terroristischen Werke, wenn Wohnungen brennen oder Gebäude einstürzen. Und dann sehen sie sich im Fernsehen von außen, nämlich ihr Kaufhaus, wie es von Polizei umstellt ist, die auf den günstigen Moment warten, einzudringen und die Attentäter unschädlich zu machen. Die Polizei ahnt ja nicht, welche Hanseln das sind.
Ohne den Anführer, den älteren Verführer, der mehr und mehr vergeblich versucht, die Kontrolle über alle zu behalten, wäre der Aufstand dieser Eingekesselten sicher noch schneller zusammengebrochen. So aber können wir minütlich verfolgen, wie Eingesperrte sich ihre Situation schönreden, wie sie von einer Freiheit des Handelns ausgehen, die längst kassiert ist. Die Gefahr droht nicht nur von außen, sondern längst sitzt der Wurm im Inneren im Auflösungsprozeß einer Gruppe, die sich als eine solche definierte, ohne eine zu sein.
Das sagen wir sehr grob und zusammenfassend. Denn eigentlich müßte man jetzt die Binnenbeziehungen der einzelnen schildern, die Regisseur Bertrand Bonello abwechslungsreich, einsichtig und mit leichter Hand uns vor Augen führt. Was aber noch fehlt, ist die oben angesprochene Dreiteilung der Handlung und Haltung für die Eingeschlossenen. Denn zumindest einer hält das nicht aus, macht sich zu einem Zeitpunkt auf und davon, als die Polizei die Gruppe noch nicht entdeckt hatte – wodurch das so schnell ging, haben wir nicht mitbekommen – trifft dann vor dem Gebäude auf einen Obdachlosen, den er ins Kaufhaus einlädt, was dieser mit einem hinzugekommenen weiblichen Pendant auch tut. Der, der sich davonschlich, kommt aber wieder, auch das erschließt sich nicht, ob er nur Luft brauchte oder abhauen wollte, aber nicht konnte.
Hier wird nicht nur geredet. Wie schon die Attentate keine Attrappe waren, so sind auch die Kugeln echt. Es wird also auch gestorben und es fließt Blut.
Aber und das bleibt an diesem Film das Rätselhafte. Es sind eben weder böse Islamisten am Werk, noch eine geschlossene politische Gruppe. Es sind Versprengte der Gesellschaft, sowohl zu kurz Gekommene, wie Gelangweilte, Wohlstandskinder und Einwanderer, die auf die gesellschaftliche Situation reagieren.
Natürlich muß man in Deutschland an die RAF denken und in Frankfurt an den 1968er Kaufhausbrand (Kaufhof und M. Schneider) von Andreas Baader und Gudrun Ensslin dazu. Aber diese Assoziation ist falsch, das merkt man gleich, darum geht das Denken in andere Richtung, denn es ist eben kein politischer Wille hinter dem Geschehen, vielleicht nur beim Kopf der Gruppe, aber auch das wissen wir nicht.
So bleibt ein Gefühl von Verwirrung und Rührung zurück. Wie schwer haben es junge Menschen, die es im Leben zu leicht haben.
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