Die documenta bringt sich mit dem Projekt „Auschwitz on the Beach“ um ihre Reputation - auch wenn dieses jetzt abgesagt wurde
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Auschwitz ist ein Synonym für den organisierten Massenmord an Juden und anderen als rassisch minderwertig eingestuften Menschen durch das NS-Regime.
Dieses Verbrechen ist bislang einmalig hinsichtlich seiner Systematik, seiner Grausamkeit und der Widerwärtigkeit, mit der es gerechtfertigt wurde. Es übertrifft jeden anderen Genozid, beispielsweise den an den Armeniern oder den an den nordamerikanischen Indianern, ohne letztere dadurch zu verharmlosen.
Wenn der umstrittene Schriftsteller Franco Berardi Gemeinsamkeiten zwischen dem historischen Auschwitz und einem von ihm so benannten „Auschwitz on the beach“, also dem Tod Geflüchteter auf See, entdeckt haben will, könnte das auf mangelhafte Geschichtskenntnis, getrübte Wahrnehmung und ein Unvermögen zur Formulierung logischer Analogien zurückzuführen sein. In jedem Fall wären ein solches „Gedicht“ und die Performance, die diesem aufgesetzt werden sollte, von vornherein und ohne jede Diskussion reif für den Papierkorb gewesen.
Mit „Auschwitz on the Beach“ verfolgte Berardi nach eigener Aussage die Absicht, sich kritisch mit der europäischen Migrationspolitik auseinander zu setzen. Im offiziellen Begleittext der documenta hatte es geheißen:
„Auf ihren eigenen Territorien errichten die Europäer Konzentrationslager und bezahlen ihre Gauleiter in der Türkei, Libyen und Ägypten dafür, die Drecksarbeit entlang der Küsten des Mittelmeeres zu erledigen, wo Salzwasser mittlerweile das Zyklon B ersetzt hat.“
Hat der Mann das ernst gemeint oder ging es ihm lediglich um eine Provokation, die sich miserabelster Stimmungsmache bediente? Wo will er Konzentrations- und Vernichtungslager entdeckt haben? Welche validen Hinweise besitzt er auf die Gründung von NSDAP-ähnlichen Organisationen in der Türkei, in Libyen und Ägypten, die von Gauleitern geführt werden? Falls das Wasser des Mittelmeers das Zyklon B der Gaskammern ersetzen sollte, bedürfte es keiner Vernichtungslager.
Dieser selbsternannte Philosoph begründet mit seinen Äußerungen eine Verlogenheit, die ausschließlich den rassistischen Strömungen Europas in die Hände spielt. Und es gibt keine Entschuldigung dafür, dass die documenta-Verantwortlichen ihm auf den Leim gegangen sind. Dass das Unternehmen jetzt auf äußeren Druck hin und nicht aus eigener ethischer und politischer Überzeugung abgesagt wurde, macht den Vorgang nicht besser.
Statt einer konsequenten Absage an diesen Widersinn erhält Berardi Gelegenheit, ein von ihm geschriebenes Gedicht vorzutragen, gefolgt von einer - wie es heißt - „partizipativen Diskussion über die neuen Gesichter des Faschismus und der aktuellen Politiken der Migration in Europa“. Es scheint so, als hätte sich die künstlerische Leitung der documenta in ihren eigenen Widersprüchen verheddert und würde sich mit jeder weiteren unangemessenen Entschuldigung immer tiefer in ein Geflecht von Dummheit und Instinktlosigkeit eingraben.
Der künstlerische Leiter der documenta, Adam Szymczyk, teilte am Dienstag dieser Woche mit, es sei keineswegs die Absicht gewesen, den Holocaust zu relativieren. Stattdessen sollten Lesung und Diskussion eine „Warnung vor historischer Amnesie, ein Weckruf des Gewissens und ein Aufruf zu kollektivem Handeln“ sein. Bevor man solche hehren Absichten umsetzt, sollte man jedoch genauestens darauf achten, mit wem man das durchführen möchte.
Kunst ist in allen Sprachen auf „Können“ zurückzuführen. Die Verantwortlichen der documenta scheinen wegen des offensichtlichen Mangels an verfügbaren Könnern auch auf Nichtkönner ausgewichen zu sein. Doch aus der Not erwächst keine Tugend und erst recht keine Kunst. Falls dieser Mangel symptomatisch sein sollte, wäre es an der Zeit, die Grundsätze der documenta in Frage zu stellen.
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Kassel: Rauch über der Documenta © HR-Hessenschau